Die Wohnungsnot in Berlin bringt einige Menschen an den Rand der Verzweiflung. Einige von ihnen ziehen von Sofa zu Sofa, weil sie keine feste Bleibe finden.
Eineinhalb Jahre lang waren Parkhäuser Georg Paneks Zuhause. Der schwerbehinderte Rentner aus Berlin-Spandau wohnte monatelang in seinem roten Kleinwagen, einem Daihatsu Sirion. Er lebte aus drei Koffern, schlief auf dem Beifahrersitz, fuhr nachts durch die leeren Straßen Berlins, wenn er fror. Es gebe keine Wohnungen, teilte das Sozialamt dem Schwerkranken mit. Anfang des Jahres fand Panek endlich eine Wohnung: eine Einzimmerwohnung in Berlin-Siemensstadt. Seitdem zahlt der 79-Jährige von 1.000 Euro Rente 484 Euro Miete. So berichtet es zumindest eine Berliner Lokalzeitung. Paneks Geschichte mag vielleicht „nur" die Spitze des Eisberges sein. Doch die Schicksale unterhalb der Spitze sind zahlreich.
So zum Beispiel das der Krankenpflegerin Marú. Mehr als drei Jahre suchte die alleinerziehende Mutter nach einer festen Bleibe für sich und ihre kleine Tochter. „Im Krankenhaus gibt es viele ausländische Fachkräfte, und sie alle haben das gleiche Problem", berichtet die US-Amerikanerin. „Wir arbeiten 40 Stunden plus pro Woche, auch durch diese Covid-Krise, und wir haben keinen Ort, an dem wir leben können." In dieser Zeit ist sie alle paar Monate umgezogen. Sie hat zur Zwischenmiete gewohnt, ist hier und da mal bei Freunden und Bekannten untergekommen. „Niemand möchte auf einem Sofa schlafen mit einem kleinen Kind, wenn du 40 Stunden pro Woche arbeitest", so die junge Mutter. „Ich glaube persönlich, dass es viel Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt gibt, und es ist schwer, als Ausländerin oder alleinerziehende Mutter eine Wohnung zu finden." Während ihrer jahrelangen Suche hat sie keinerlei Unterstützung bekommen. Weder durch ihren Arbeitgeber noch von behördlicher Seite. Erst im Sommer 2020 fand die Wahl-Berlinerin endlich eine feste Wohnung in Berlin-Friedrichshain. „Ich war so froh", erinnert sich die Krankenpflegerin. Allerdings ist ihre neue Bleibe nur eine Einzimmerwohnung mit 35 Quadratmetern, die sie sich mit ihrem Kleinkind teilen muss.
Alleinerziehende Mutter musste alle paar Monate umziehen
In der Tat ist der Berliner Wohnungsmarkt zu einer Art Kampfzone geworden. Wird eine Wohnung frei, sieht man oft Schlangen von Menschen bis draußen auf der Straße stehen. Falls die Wohnung nicht bereits unter der Hand vergeben ist. Eigentlich müsste die Stadt den Neubau von Wohnungen vorantreiben. Doch dieses Ziel wird seit Jahren in der Hauptstadt verfehlt. „Wir brauchen jedes Jahr 20.000 neue Wohnungen", sagt Maren Kern, Vorstands-Chefin des Verbandes Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen (BBU). Gemessen an der Zahl neu gebauter Wohnungen je 1.000 Einwohner liege Berlin deutschlandweit auf dem 20. Platz, so die BBU-Chefin. Bereits seit 2017 würden kontinuierlich weniger Wohnungen in Berlin genehmigt, so Kern. Erst kürzlich gab das Amt für Statistik Berlin-Brandenburg die Zahlen für die erteilten Baugenehmigungen in Berlin und Brandenburg im ersten Halbjahr 2021 heraus. Das Ergebnis: In Berlin ist die Zahl der erteilten Genehmigungen im Vorjahresvergleich um rund 29 Prozent eingebrochen. „Die Berliner Zahlen haben es in sich", erläutert Maren Kern. „Denn hinter ihnen steckt die immer noch unzureichende personelle und technische Ausstattung der Bauämter, vor allem aber auch das zunehmend schlechtere Neubauklima in der Stadt." Insbesondere auch der zwischenzeitlich gescheiterte Mietendeckel sowie die Enteignungsdiskussion hätten hierzu einen Beitrag geleistet. Das alles geht zulasten all derjenigen, die händeringend nach einer bezahlbaren Wohnung in Berlin suchten.
Zu den verzweifelt Suchenden zählt auch der Pole Kasimir Szymanski (Name von der Redaktion geändert). 2018 zog der Filmemacher und Künstler nach Berlin, weil ihm sein Heimatland unter der Führung von Jarosław Kaczyński und der PiS-Partei zu repressiv und die Stimmung im Land zu bedrückend erschien. Berlin dagegen begeisterte ihn: eine Stadt, in der noch ein freier Geist wehte, dachte er.
Weil sein Sohn Ignacy noch die Schule besuchte und seine Frau Anna noch eine Anstellung als Kunstlehrerin in Warschau hatte, kam er zunächst allein in die 3,6 Millionen große Metropole. Ein paar Monate wohnte er bei einer polnischen Verwandten, später bei einer Freundin einer Freundin. Immer zur Untermiete. Die Übergangssituation war nicht optimal, aber irgendwie noch erträglich. Alle drei, vier Wochen fuhr er rüber nach Warschau, um Frau und Sohn zu besuchen. Doch dann kam Covid-19. Und damit der Lockdown. Die Grenze zwischen Deutschland und Polen wurde dichtgemacht.
Anbieter bekommen täglich 60 E-Mails
Der Neu-Berliner konnte mit seiner Familie nur noch telefonieren oder skypen, und das über Wochen. Dabei hatte sich seine Frau Anna gerade erst entschlossen, in Polen alles aufzugeben: Freunde, Wohnung und Job. Sie war jetzt so weit, ihrem Mann zu folgen und mit Anfang 50 noch einmal von vorne zu beginnen. Nun hieß es warten. Im Spätsommer 2020 war es endlich so weit: Der Lockdown war vorbei, das Schuljahr war für Anna Szymanski als Lehrerin zu Ende. Der damals noch 17-jährige Ignacy konnte am Unterricht der freien Schule, auf die er in Warschau ging, weiter online teilnehmen. Frau und Sohn zogen samt Kater Henryk mit in die Wohnung, in der Kasimir Szymanski mit der deutschen Hauptmieterin in Berlin-Pankow bereits wohnte. Weil es auf Dauer zu fünft in zweieinhalb Zimmern zu eng war, suchte der Neu-Berliner bald erneut. Zunächst ließ er sich als Interessent in die Liste einer großen Berliner Wohnungsbaugesellschaft eintragen. Bislang ohne jedweden Erfolg, obwohl er dort jeden Monat anruft und nachfragt. So hieß es für die Familie, sich nach einer Zwischenlösung umzuschauen. Der 51-Jährige hatte zunächst an das Ferienwohnungs-Portal AirBnB gedacht, doch er fand andere virtuelle Plattformen, die Übergangswohnungen zu günstigeren Preisen anboten.
Günstig heißt in dem Fall eine Warmmiete zwischen 800 und 900 Euro für zwei Zimmer. Auf Facebook wurde er fündig und fand eine Zwischenwohnung, die halbwegs erschwinglich schien.
„Man muss der Erste sein", sagt er. „Die Anbieter bekommen 60 E-Mails am Tag, und dann ist die Anzeige auch schon wieder weg." Doch die Anbieterin, eine Taiwanerin, die ihre Familie in Asien besuchen wollte, zögerte. Sie wollte die Wohnung lieber an eine Familie mit Baby untervermieten, die sich ebenfalls bei ihr gemeldet hatte. Doch dann musste die Hauptmieterin ihre geplante Reise in ihr Heimatland verschieben. Unklare Ein- und Ausreisebestimmungen bedingt durch wechselnde Covid-19-Restriktionen brachten sie dazu, einen neuen Einzugstermin für die Zwischenmieter festzulegen, der alles andere als sicher war. Die Familie mit Baby sprang ab, sie brauchte sofort eine neue Wohnung. Szymanskis Familie rückte damit an die erste Stelle, allerdings unter der Bedingung, auf kurzfristigen Abruf einzuziehen. Es klappte. Zwei Tage vor dem Einzug bekam die Familie grünes Licht. Für den Wahl-Berliner war es bereits seine vierte Übergangswohnung in Berlin.
Als die dreiköpfige Familie im Herbst 2020 ihre Übergangswohnung an der Wisbyer Straße bezog, glaubte sie sich in einer Art Westernsaloon wiedergefunden zu haben. Tierfelle lagen auf dem Boden, und an den Wänden hingen lauter nackte Tierschädel. „Die haben wir gleich abgehängt und in der Vorratskammer aufbewahrt." Beeindruckt aber war der Künstler von der großen Sammlung an Schallplatten mit Punk-Musik. „Da steckte sicher mehr Geld drin als in der Miete", erzählt er und gießt seinem Gast ein Glas Weißwein ein, während Ehefrau Anna den schnurrenden Kater streichelt. Das neue Wohnglück hielt vier Monate lang, dann musste die Kleinfamilie wieder weiter ziehen.
Unzählige Telefonate und wenig Erfolg
Jetzt hieß es wieder aufmerksam die Gruppen in den sozialen Netzwerken zu durchforsten. Diesmal war es eine Wohnung am Ostkreuz, für die er sich Chancen ausrechnete. Auch diesmal mussten Kasimir Szymanski und seine Frau schnell sein. Besonders in puncto Liquidität. Bei der Besichtigung wollten die Hauptmieter sofort die Kaution haben. „Das war die Bedingung, damit wir die Wohnung bekommen. Wahrscheinlich brauchten sie dringend Geld", erzählt er. Und so wurde ad hoc gezahlt. Hier war ebenfalls die Wohndauer begrenzt. Die Szymanskis riefen weiter regelmäßig die Wohnungsbaugesellschaft an, ohne Erfolg. Sie schlugen sich mit Papierkram herum, um einen Wohnberechtigungsschein zu erhalten. Den haben sie seit gut einem Monat auch. Eine dauerhafte Wohnung finden sie trotzdem nicht. Dafür haben sie vor vier Monaten eine erneute Übergangswohnung bis Ende September gefunden. Die Familie wohnt jetzt in einer circa 55 Quadratmeter großen Zweizimmerwohnung im Hochparterre im Berliner Regierungsviertel. Der Bau ist aus den 50er-Jahren. Die Zimmer sind klein, es gibt zu wenig Schränke und zu wenig Stauraum, finden die beiden. Sie zahlen monatlich 1.200 Euro Miete. Weil es in der Küche keinen Esstisch gibt, haben sie einen eigenen Camping-Tisch und einen Pouf dazugestellt.
Den Hauptmieter hat die Familie nie gesehen. Er weilt zur Zeit in Mazedonien. Die Untervermietung hat er über Bekannte abgewickelt.
„Irgendwas ist immer", fügt seine Frau Anna hinzu und schaut erneut, was Kater Henryk macht, den sie liebevoll Heniu nennt. Neulich gab es eine Anzeige für eine attraktive Wohnung in Berlin-Prenzlauer Berg, aber da waren sie schon in die aktuelle Wohnung gezogen, erzählt ihr Mann am Schluss noch. Die Miete der anderen Wohnung, die natürlich auch wieder nur eine Übergangsbleibe gewesen wäre, war sehr günstig. Allerdings hätten die Zwischenmieter noch zwei Katzen mitversorgen müssen. Das wäre kein Problem für die Katzenliebhaber. Aber noch lieber wären ihnen endlich die eigenen vier Wände.