Den Fünfsatz-Krimi im verlorenen Finale der US Open 2020 kann Alexander Zverev als Generalprobe für das erste deutsche Olympia-Gold im Herren-Einzel abhaken: Befeuert er mit seiner Medaille einen neuen Tennis-Boom und wird er auch in New York zu Djokovics Rekord-Bremser?
Saschas jüngster Hund ist goldig und heißt „Junior". Der schwarze Wuschel ist der Sohn von „Lövik", der einst in München auf der Tribüne verfolgte, wie sein Herrchen Sascha einen weiteren Turniersieg erkämpfte. Auf dem Münchner Flughafen empfingen die beiden Hunde Anfang August zusammen mit Alexander Zverev Senior, Mutter Irina und Bruder Mischa den 24-jährigen Hamburger, der als erster Deutscher eine Goldmedaille bei Olympia im Herren-Einzel holte. Deshalb zeigte Sascha seine Goldmedaille nicht nur Bruder Mischa, der neuerdings auch sein Manager ist, sondern auch dem kleinen „Junior". Denn Alexander, genannt „Sascha", holt sich den Rückhalt für seine Erfolge bei seiner Familie, bei der er sich stets bedankt und zu der auch die treuen Tiere gehören.
Diesmal, nach diesem bislang einmaligen Sieg in der deutschen Tennishistorie, erweitert der gereifte Tennis-Jungstar den Dank an seine soziale Nest-Umgebung auf eine ganze Tennisnation. So bei Eurosport: „Ich habe keine einzige Sekunde hier für mich selbst gespielt." Und präzisiert, für wen sonst: „Für alle, meine Familie, meine Eltern, meinen Bruder, meine Tochter, für ganz Deutschland, alle, die zuhause in Deutschland mitgefiebert haben … Vielen Dank, diese Medaille von mir gehört ganz Deutschland. Es war die beste Woche meines Lebens."
Gebeamt ins Eurosport-Studio, erklärt der Weltranglisten-Sechste später auch, warum: „Es ist bei den Tennisspielern so: Sobald Du bei Olympia bist, verstehst Du, was das für ein Gefühl ist … Eine Olympiamedaille zu gewinnen, ist das Größte, was du in diesem Sport machen kannst."
Bei einer Pressekonferenz skizzierte Alexander Junior, was er aus den Emotionen, die ihm „weitergeholfen haben", noch machen möchte: „Ich möchte den Tennissport in Deutschland populär machen. Ich möchte, dass kleine Kinder zu den Eltern gehen und sagen: Papa, Mama, ich möchte Tennis spielen. Das ist wichtig für mich. Ohne Tennis wäre ich auch nicht wirklich jemand. Diese Sportart hat mir eine Goldmedaille gegeben."
„Schon bei der TV-Übertragung aus Tokio konnte man erkennen, dass sich viele Menschen für den Tennissport begeistern", sagt der Präsident des Deutschen Tennisbundes (DTB), Dietloff von Arnim, auf Nachfrage von FORUM. „Sowohl das Finale als auch das Halbfinale hatten eine Einschaltquote von über 30 Prozent."
Helmut Schmidbauer, Präsident des Bayerischen Tennis-Verbandes (BTV) und DTB-Vorstandsmitglied, formuliert das so: „Wir merken, dass seit dem Olympia-Sieg die Nachfrage von besonders Kindern in den Vereinen gestiegen ist."
Tennis bei Olympia wieder mit höheren Zuschauerzahlen
Als Alexander „Sascha" Zverev 1997 geboren wurde, boomte Tennis in Deutschland. Seit 1994 hatte der Deutsche Tennisverband (DTB) seiner Statistik zufolge für ein paar Jahre mehr als 2,2 Millionen Mitglieder – ein Höchststand. Dank der Erfolge von Steffi Graf, Boris Becker und Michael Stich in den 1980er- und 1990er-Jahren frequentierten immer mehr Freizeitspieler und ambitionierter Nachwuchs die Courts in deutschen Vereinen, Clubs und Sportschulen. Rund 51.000 Plätze standen den 2,25 Millionen Tennisbewegten 1997 zur Verfügung, die meisten davon an der frischen Luft.
Während Saschas Kleinkinderzeit in Richtung Jahrtausendwende kam Tennis ein wenig aus der Mode. Die alles überstrahlenden Topstars dankten ab. Tennis war nicht mehr ständig als „Straßenfeger" auf den öffentlich-rechtlichen Sendern präsent. Ab 1998 stand erst hinter dem Komma eine Eins, ab 2001 dann auch vor dem Komma der Millionen-Mitglieder-Rechnung.
Im Jahr 2020 gab es immer noch fast 46.000 Courts, 5.355 davon in Hallen. Für 1,4 Millionen Spielerinnen und Spieler. Zulauf-Tendenz im mitgliederstärksten Tennisverband der Welt zum neuen Jahrzehnt: wieder steigend.
„Genügend Tennisplätze gibt es in jedem Fall", sagt von Arnim. „Jeder, der Tennis spielen möchte, findet einen Verein ganz in seiner Nähe. Deshalb können wir nur jeden ermutigen, den schönsten Sport der Welt auszuprobieren."
Auch, wenn es draußen nass und kalt ist. Schmidbauer: „Hallenplätze werden in letzter Zeit mehr und mehr gebaut. In den Großstädten ist die Nachfrage nach Tennis groß, und darum sind die Plätze bestens ausgelastet."
Ein Ball für nur zwei Spieler – das gefällt sportlichen Strategen aktuell. „Wir merken nicht erst seit Olympia, dass Tennis als Sportart momentan in ist. Ich würde sagen, es ging schon vor Corona stetig bergauf", sagt Brigitte Reichart, Cheftrainerin einer Tennisschule, die seit 1993 in München vor allem Kinder und Jugendliche an den Sport heranführt, aber auch Erwachsene vom Anfänger bis zum Profi im Freizeit- und Leistungstennis unterstützt.
BTV-Präsident Helmut Schmidbauer bestätigt den Eindruck aus der Praxis mit Verbandszahlen: „Beim BTV sind die Mitgliederzahlen zum 31.12.2020 um 2,1 Prozent gestiegen und beim DTB um 1,5 Prozent. Wir erwarten uns bei der Mitgliedererhebung zum 31.12.2021 beim BTV und DTB eine erneute Steigerung der Mitgliederzahlen."
Zum Vorteil wurden besonders die Freiluft-Matches in Pandemiezeiten, da Distanz zu lediglich einer Kontaktperson auf der anderen Seite des Netzes zu wahren ist. Von Arnim: „Bereits vor den Olympischen Spielen haben wir beim DTB wieder steigende Mitgliederzahlen verzeichnen können. Der Olympiasieg wird den Anstieg sicherlich noch einmal beschleunigen. Was uns besonders freut, ist, dass sich die Zahlen in allen Altersklassen positiv entwickeln. Wir sind optimistisch, dass sich auch dieser Trend fortsetzten wird. Tennis ist eben ein Sport für die ganze Familie."
Wie bei der Rückkehr des Olympiasiegers aus Tokio zu sehen war: Rund 100 Fans waren Anfang August Mischa Zverevs Aufruf gefolgt, auf dem Flughafen in München Sascha zu begrüßen. Versüßt wurde das Warten auf die Mitternachts-Party von Eisportionen, die der stolze, große Bruder an die Kinder austeilte.
Nach einer Regenerationspause reiste Zverev in die USA und dort zu den US Open. Vom 30. August bis zum 12. September wird im Flushing-Meadows-Park erstmals wieder seit Pandemiebeginn ein Grand Slam vor vollen Rängen gespielt. Hauptthema bei den Herren: Schafft Novak Djokovic den Sprung vor seine Rivalen Rafael Nadal und Roger Federer mit einem 21. Major-Sieg?
Vor einem Jahr stand Alexander Zverev erstmals im Finale der US Open. Gegen seinen Freund Dominic Thiem verlor er damals knapp. Zeigt Sascha heuer eine ähnliche Konstanz und Schlagstärke wie bei Olympia, könnte der 24-Jährige einmal mehr Djokovics Ambitionen ausbremsen: Der Serbe wollte in diesem Jahr den Golden Slam einfahren. Das heißt: als erster männlicher Spieler alle vier Grand Slams eines Jahres plus die Gold-Medaille bei Olympia gewinnen. Daraus wurde nichts, denn im Halbfinale beendete Zverev den Traum von „Nole".
Corona-Pandemie sorgt für Auftrieb im Freiluftsport
Eine Hoffnung bleibt dem Weltranglisten-Ersten: Wenn der 34-Jährige die US Open gewinnt, hat er nicht nur den „Grand Slam" der Saison in seinem Karrierebuch stehen, sondern verbucht damit mehr Grand-Slam-Titel als Nadal und Federer auf seinem Konto. Die Tennislegenden aus Spanien und der Schweiz treten im Herbst ihrer Laufbahn nur noch selektiv siegesgewiss zu Turnieren an.
Federer gab jüngst bekannt, dass er verletzungsbedingt gar nicht bei den US Open dabei sein und um einen Rekordtitel bei einem Major mitkämpfen kann. Für ihn steht die dritte Operation am Knie an, eine Rückkehr zur Tour ist in dieser Saison unwahrscheinlich. Der 40-Jährige sagte in den sozialen Medien in einem Video: „Ich werde für viele Wochen Krücken brauchen und bin für viele Monate raus." Der vierfache Vater ergänzte: „Ich hoffe, dass ich auf die Tour zurückkehren werde. Aber ich bin realistisch".
Dominic Thiem, der bei den US Open 2020 seinen langersehnten, ersten Grand-Slam-Titel holte und die Saison fast als Nummer zwei der Weltrangliste beendet hätte, würde als Titelverteidiger in New York gerne neu durchstarten. Zuletzt zwang eine Handgelenksverletzung den 27-Jährigen zum Pausieren. Dennoch brachte er sich rund um die rechte Hand wieder in Form. Davon berichtete der Österreicher im Hitradio-Ö3-Interview bei „Walek wandert": „Ich fühle mich topfit. Ich habe alles machen dürfen, was das Handgelenk nicht belastet." Über seine eventuelle Teilnahme am Hartplatz-Grand-Slam in den USA, mit Fünfsatz-Matches, sagte er: „Ich hoffe, dass ich spielen kann. Die Chancen, weit zu kommen, sind da natürlich nicht groß. Wenn ich dabei wäre, wäre top."
Hoffnungen und Fragezeichen gibt es auch bei den Damen: Serena Williams arbeitet mit 39 Jahren weiter auf ihren 24. Grand-Slam-Titel hin, musste verletzungsbedingt Wimbledon abbrechen und sagte erst jüngst wieder ein Turnier ab. Von den amtierenden „First Ladies", Ashleigh Barty und Naomi Osaka, sind Power-Matches zu erwarten, wenn sie in Form sind: Die Australierin Ash schied in Tokio in der ersten Runde aus. Osaka, das Gesicht von Olympia in ihrer Heimat Japan, zündete zwar das Olympische Feuer an, schaffte es aber nicht aufs Siegertreppchen, auf dem sie in New York 2018 und 2020 gestanden hatte.
US-Open ohne verletzten Roger Federer
Einen ähnlichen Auftrieb wie Sascha Zverev dürfte Belinda Bencic durch ihren Olympiasieg zu den US Open mitnehmen: Vielleicht verteidigt die 24-Jährige auch hier die Schweizer Tennisehre. Federer dürfte es freuen, wobei Lokalmatadorin Sofia Kenin als Nummer vier der Welt und Aryna Sabalenka aus Belarus nicht zu unterschätzen sind.
Bei Angelique Kerber, die wegen einer Oberschenkelverletzung nicht nach Tokio fuhr, könnte ihr jüngster Einzug ins Halbfinale von Wimbledon als Motivator wirken, ihren US Open-Sieg von 2016 zu wiederholen. Sollten Zverev oder/und Kerber zusätzlich zu Olympia-Gold einen Grand-Slam-Titel aus dieser Saison mitbringen, werden wohl noch mehr Kinder in Deutschland als schon jetzt zu ihren Tennisstunden stürmen. Doch auch „nur" mit Zverevs Olympia-Gold, ist aktuell ein Tennis-Boom zu spüren. Zumindest ein kleiner.