Der Ernst des Lebens beginnt für die Schülerinnen und Schüler im Saarland wieder im Zeichen der Pandemie. Bildungsministerin Christine Streichert-Clivot (SPD) sieht die Schulen gut vorbereitet. In Folge der Pandemie hat sich einiges getan, der Nachholbedarf bleibt eine große Herausforderung.
Frau Streichert-Clivot, neues Schuljahr – andere Bedingungen. Corona wird weiter auch den Schulalltag bestimmen. Was ist jetzt anders?
Im Grunde geht es mit den bewährten Maßnahmen weiter, die wir schon seit vielen Monaten an unseren Schulen umsetzen, nämlich der Teststrategie und der Maskenpflicht, um genau zu beobachten, wie sich die Entwicklung weiter darstellt. Wir sind ja im Moment bedauerlicherweise in der Situation, dass die Fallzahlen wieder im Anstieg begriffen sind. Um einen sicheren Schulstart zu ermöglichen, haben wir uns für diese Maßnahmen entschieden und werden die Lage weiter beobachten. Wir haben das mit der Gesundheitsseite besprochen und hatten auch noch mal ein Gespräch mit den Kinder- und Jugendärzten, ob diese Maßnahmen gut und ausreichend sind.
Die Ständige Impfkommission hat jetzt auch die Impfung von Kindern und Jugendlichen ab zwölf Jahren empfohlen. Das hat eine Diskussion über Impfen an Schulen ausgelöst. Wie sieht es im Saarland aus?
Wichtig ist, dass diese Kinder und Jugendlichen ein Impfangebot erhalten. Das hatten wir bereits vor der Stiko-Empfehlung. Das Saarland hat sich sehr früh auf den Weg gemacht und gesagt, dass sich jeder Jugendliche über zwölf Jahre im Impfzentrum impfen lassen kann, auch ohne die Empfehlung. Kinder- und Jugendärzte haben ebenfalls Impfungen auf Nachfrage umgesetzt. Ich finde, Impfangebote im Umfeld von Schulen zu machen, es aber klar abzugrenzen vom Schulbetrieb, kann ein Weg sein für ältere Schülerinnen und Schüler. Man muss das sehr gut überlegt machen, denn es darf nicht in einen Gruppenzwang und Mobbing von Kindern ausarten, deren Eltern sich nicht für eine Impfung entschieden haben – oder von Jugendlichen, die sich selbst noch Gedanken darüber machen, ob sie eine Impfung wollen oder nicht. Deshalb spreche ich mich dafür aus, Impfungen nicht an Schulen stattfinden zu lassen. Übrigens auch, weil unsere Schulen noch ganz andere Herausforderungen haben, nämlich die Aufarbeitung von Lerndefiziten.
Was diese Lerndefizite angeht: Gibt es einen Überblick, was Stand der Dinge ist?
Wir haben mit den Schulen auch schon vor den Sommerferien daran gearbeitet, diese Lernrückstände aufzuarbeiten. Was uns die Schulen allerdings zurückgemeldet haben, ist, dass wir uns jetzt vor allem auch mit den sozial-emotionalen Folgen auseinandersetzen müssen. Die Corona-Politik der vergangenen Monate mit Schulschließungen, mit massiven Einschränkungen im Bereich der Freizeit, ob im kulturellen oder sportlichen Bereich, hat ihre Spuren hinterlassen. Auch Quarantäne-Maßnahmen gehen an Kindern und Jugendlichen nicht spurlos vorbei. Das ist auch eine Rückmeldung, die wir von den Lehrerinnen und Lehrern haben. Das sind Probleme, die sich in den letzten Monaten aufgestaut haben und nicht auf dem schnellen Weg zu verarbeiten sind, das braucht Zeit. Wenn ich im Kopf klar bin und nicht tausend Probleme mit mir rumschleppe, kann ich auch besser lernen. An der Stelle sind wir dran.
Also etwas provokant gesagt: Weniger Lüftungsgeräte, dafür mehr Personal?
Ich würde das eine nicht gegen das andere ausspielen. Natürlich lässt sich Bildungspolitik nur mit gutem Personal umsetzen. Ich stelle ja keine Roboter auf, die mit dem Kind Matheaufgaben üben. Es sind Pädagoginnen und Pädagogen, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, Psychologinnen und Psychologen, die den Kindern und Jugendlichen helfen. Ich hätte mir auch gewünscht, dass man nicht nur über Hygienemaßnahmen diskutiert und streitet, sondern sich auch damit auseinandersetzt, welche sozialpsychologischen Folgen die Pandemie hat und wie wir darauf gute Antworten findet.
Das Problem ist aber, dass sich das weniger in Statistiken und Zahlen darstellen lässt.
Das ist seit jeher Merkmal jeder Bildungspolitik, dass sich die Folgen von Maßnahmen erst in Jahren oder Jahrzehnten zeigen, im Positiven, wie im Negativen. Deshalb habe ich sehr viel Wert darauf gelegt, dass Schulen offen bleiben, und ich habe sehr viel Wert darauf gelegt, dass unsere Schülerinnen und Schüler ihren Abschluss machen können. Ich habe um jeden Tag offener Schulen gekämpft, und ich denke, das zahlt sich aus. Trotzdem hatten wir viele Wochen Schulen geschlossen und Fernunterricht, da ist vieles auf der Strecke geblieben, das muss man so festhalten.
Es war auch die Rede davon, dass man auch „Kinder verloren" hat. Gibt es dazu inzwischen einen Überblick?
Es war insbesondere im ersten Lockdown so, dass Kinder und Familien nicht mehr erreichbar waren. Das hat unterschiedliche Gründe. Ich darf aber sagen, dass unsere Lehrerinnen und Lehrer, Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen, alles gegeben haben, die Kontakte sicherzustellen, bis hin zur aufsuchenden Arbeit, also an den Türen zu klingeln und nachzufragen. Das ist – leider – nicht in allen Fällen gelungen. Das sind die Fälle, die uns sicher noch sehr viel Arbeit machen, das aufzuarbeiten. Umso wichtiger ist, dass es uns gelingt, die Schulen offen zu halten. Denn das aufzuarbeiten, was in dieser Zeit geschehen ist, ist für Schulen extrem herausfordernd und geht auch den Pädagoginnen und Pädagogen nicht spurlos vorbei. Wir müssen lernen, mit der Pandemie, die uns sicher noch eine Zeit lang begleitet, umzugehen. Vielleicht mit einer Art Gesellschaftsvertrag über bestimmte Maßnahmen bei einer bestimmten Entwicklung, um uns dann wieder auf das Kerngeschäft der Bildungsarbeit zu konzentrieren. Es ist nämlich extrem schwierig, mit jedem neuen Aufregerthema um die Pandemie den Fokus wieder auf die eigentlichen Aufgaben der Schulen zu lenken.
In der ersten Phase waren die Debatten um alle Maßnahmen an Schulen sehr emotional geführt worden. Hat sich das inzwischen etwas versachlicht?
Es hat sich versachlicht, weil wir Debatten um Maskenpflicht, Teststrategie und Abstand halten viele Male diskutiert haben. Es bleibt aber ein Teil der Gesellschaft, die diese Maßnahmen ablehnen. Bei den Maßnahmen, die wir jetzt zum Schulstart verkündet haben, gab es viel weniger Aufregung bei den Eltern. Ich glaube, es ist ganz vielen klar, dass wir das nicht machen, um die Beteiligten zu gängeln, sondern um alle zu schützen und einen sicheren Schulstart zu ermöglichen.
Die Notwendigkeiten in der Pandemie haben der Digitalisierung an Schulen enormen Auftrieb verschafft. Kann man eine Zwischenbilanz ziehen, wo wir jetzt stehen?
Tatsächlich ist es so, dass sich durch die Pandemie extrem viel getan hat. Unsere Lehrerinnen und Lehrer haben sich fortgebildet, wir haben eine Lernplattform installiert, die nahezu störungsfrei läuft und auf sehr viel Akzeptanz stößt: die Online-Schule Saarland. Der Digitalpakt wird auch sehr gut abgerufen, wir investieren in die digitale Ausstattung der Schulen. Die Staatskanzlei ist dabei, den Breitbandausbau in den Kommunen voranzutreiben, und wir bereiten eine digitale Schulbuchausleihe vor, statten Schülerinnen und Schüler und Lehrkräfte mit digitalen Endgeräten aus. Das haben wir auf kommunaler Ebene bei den Landkreisen gebündelt, das heißt, die Kreise kümmern sich auch um die Ausstattung der Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte mit digitalen Endgeräten an den Grundschulen, das müssen also nicht die Gemeinden machen. Natürlich gibt es viele Detailfragen zu klären, aber im Grundsatz sind die Entscheidungen klar. Wir werden künftig vieles an Lernprozessen digital gestützt voranbringen. Damit können wir neue Lernzugänge schaffen und diejenigen besonders fördern, die mehr Unterstützung brauchen, ebenso diejenigen, die mehr Futter brauchen. Das wird die Arbeit im Klassenzimmer massiv verändern.
Vor jedem neuen Schuljahr gab es immer Diskussion um Klassen, Lehrkräfte, möglichen Unterrichtsausfall. Da hat sich auch durch die Pandemie einiges getan. Spielt das in der aktuellen Situation noch eine besondere Rolle?
Doch, natürlich. Es gehört zu meiner Arbeitsplatzbeschreibung, dass ich immer mehr Lehrerstellen fordern werde. Aber wir haben schon durch die Verhandlungen mit dem Finanzministerium in den letzten Monaten einen guten Stand beim Personal erreicht. Wir haben mit Blick auf die krisenbedingten Herausforderungen bei Kindern und Jugendlichen vom Bund 11,5 Millionen Euro bekommen und gleichzeitig als Land 16,5 Millionen Euro dazugegeben für Lernunterstützungsangebote und tatsächliche Lehrerstellen. Wir haben außerdem 200 Stellen aus der coronabedingten Lehrerreserve, wir sind also gut aufgestellt. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass ein Teil unserer Lehrkräfte trotz Impfung nicht in der Schule arbeiten gehen kann, weil sie besonders vulnerabel sind oder schwanger. Das können wir aber gut auffangen.
Was ist für Sie das Wichtigste zum neuen Schuljahr?
Es muss klar sein, dass Schulschließungen keine Optionen sind. Wenn man in unser Nachbarland Frankreich sieht: Dort ist klar, dass Schulschließungen nur die absolute Ausnahme sind. Deutschland hat als Bildungsrepublik den Fehler begangen, Schulschließungen sehr lange mitzuschleppen. Die Ausgangsthese damals, dass Kinder und Jugendliche sich im schulischen Kontext gegenseitig anstecken, stimmt nicht, das hat auch unsere sehr gute Teststrategie ergeben. Seit Beginn der Ferien steigt die Zahl der Infektionen. Nach der damaligen These hätte man annehmen müssen, dass die Zahlen sinken, wenn man Schulen schließt. Dass Übertragungen unter Schülerinnen und Schülern nicht in dem Umfang stattfinden, wie man das erwartet hatte, liegt zum einen natürlich an den umfangreichen Infektionsschutzmaßnahmen, die wir ergriffen haben, zum anderen ist Schule ein sehr kontrollierter Bereich. Wir sind an einem Punkt, wo wir sagen können, dass Schulen nicht mehr geschlossen werden müssen.
Betrifft das auch für den Wechselunterricht?
Ich würde den mit einbeziehen. Wechselunterricht ist immer eine Teilschließung. Im Übrigen habe ich in dieser Woche, wo ich dann junge Menschen ausschließe, keine Kontrolle über das Infektionsgeschehen. Ich glaube, wir sind sehr, sehr gut vorbereitet. Und ich bin froh, dass im Bundestagswahlkampf Schließungen nicht mehr die Rolle spielen. Ich finde, dass wir als Gesellschaft alles daran setzen müssen, Schulen nicht mehr zu schließen.
Jenseits von Corona gab es unlängst eine erfreuliche Nachricht. Der Bildungsmonitor bescheinigt dem Saarland große Fortschritte. Solche Erhebungen werden oft viel diskutiert, wie ordnen Sie das Ergebnis ein?
Das war für uns ein erfreuliches Ergebnis. Wir spielen auf den vorderen Rängen mit. Das zeigt, dass sich sozialdemokratische Bildungspolitik erfolgreich durchgesetzt hat. Bei den Schwerpunkten, die der Bildungsmonitor legt, wie multiprofessionelle Ausstattung von Schulen, Digitalisierung, natürlich Personal und Bildungsausgaben allgemein sind wir auf einem sehr guten Weg. Auf Platz fünf können wir stolz sein, zumal wir als Saarland den höchsten Zuwachs seit 2013 hatten. Das Land ist also vorne mit dabei, der Bildungsmonitor hat mich bestärkt, auf diesem Weg weiter zu machen: Bei den ganz Kleinen früh anzufangen, ganztägige Betreuung von Kindern voranzutreiben, einen Schwerpunkt auf frühkindliche Bildung zu legen, aber auch Schule zu modernisieren und moderne Schulpolitik zu machen, Kinder und Jugendliche mit allem zu unterstützen, was sie brauchen.
Das heißt konkret?
Der Bildungsmonitor hat uns bescheinigt, dass wir an den Grundschulen schon sehr viel richtig gemacht haben. Wir hatten an Grundschulen Klassengrößen von bis 29 und haben jetzt eine durchschnittliche Klassengröße von 20 Kindern. Das ist ein Weg, bei dem wir in den kommenden Jahren alles daran setzen müssen, dass wir das beibehalten können. Das ist natürlich eine Herausforderung für die Schulträger, weil wir dafür auch Raum zur Verfügung stellen müssen. Lehrerinnen und Lehrer müssen die Möglichkeit haben, gezielte Lernförderung zu machen, und da ist die Größe der Klasse, oder besser die Größe der Lerngruppe entscheidend. Deshalb sind wir auch mit Mitteln aus dem Aufholprogramm hingegangen, Möglichkeiten für zusätzliches Personal zu schaffen. Damit man dort, wo keine Klassenteilung möglich ist, zumindest differenzierter arbeiten kann. Der Zuspruch und die Rückmeldung der Eltern zeigen, dass sich das allemal gelohnt hat.
Wir stehen jetzt kurz vor der Bundestagswahl und ein halbes Jahr später wird im Saarland gewählt. Was steht aus Ihrer Sicht bis dahin noch auf der Agenda?
Das eine ist, die Digitalisierung weiter voranzubringen, das wird eine Daueraufgabe bleiben. Das andere große Projekt, das wir noch vor der Brust haben, ist das saarländische Kinderbetreuungs- und -bildungsgesetz, ich nenne es Kita-Gesetz. Es geht darum, dass wir mehr gutes Personal in diesen Bereich bekommen und dass wir mehr Personal ausbilden. Es geht also einerseits darum, die Kita-Qualität weiter zu steigern. Wir werden künftig aber nicht nur mehr pädagogische Fachkräfte in den Kitas benötigen, sondern auch für die Ganztagsbetreuung in der Schule. Und in Berlin wird derzeit das Recht auf ganztägige Bildung und Betreuung in der Grundschule verhandelt, das liegt noch im Vermittlungsausschuss. Da haben die Länder deutlich gemacht, wenn der Rechtsanspruch kommt, muss der Bund tiefer in die Tasche greifen, damit wir das gut umsetzen können. Da muss sich der Bund bewegen, das ist meine klare Erwartung. Für Kinder im Grundschulalter darf es keine Betreuungslücke geben. Viele Eltern im ganzen Land sind darauf angewiesen.