Das mehr als unrühmliche Ende des deutschen Afghanistan-Einsatzes wirft zahlreiche Fragen auf. Die deutschen Parteien machen bei der Aufarbeitung bislang noch keine gute Figur.
Vor allem die Grünen hat das Abzugsdesaster am Hindukusch in ihrem ohnehin ramponierten Wahlkampf auf dem völlig verkehrten Fuß erwischt. Mit 20-jähriger Verspätung müssen sich Annalena Baerbock und Robert Habeck einer Diskussion stellen, die man im Oktober 2001 mit einer Bundestagsabstimmung für erledigt glaubte: Sind Auslandseinsätze der Bundeswehr tatsächlich ein humanitärer Akt? Ja, fand unter anderem Joschka Fischer. Bewaffnete Einsätze von Soldaten können tatsächlich Menschen in afghanischen Dörfern helfen und eine demokratische Entwicklung im westlichen Sinne durchsetzen.
Der damalige Außenminister bejaht dies noch heute und ist damit der einzige Grüne, der sich der aktuellen Debatte bereits vier Tage nach der endgültigen Machtübernahme der Taliban gestellt hat. Das derzeitige Spitzenteam Baerbock und Habeck duckt sich in dieser Frage lieber weg und bleibt in ihren, von Journalisten immer wieder vehement geforderten, Statements im Ungefähren. Beispiel: Die Frage, ob Ortskräfte nach Deutschland geholt werden müssen. Eine Selbstverständlichkeit, die selbst der AfD-Fraktionschef im Bundestag, Alexander Gauland, gegenüber FORUM eingefordert hat.
Dilemma der Grünen und der Linken
Doch gerade die Grünen wollen lieber nicht tiefer ins Thema einsteigen. Offenbar glaubt man, alte Wunden würden mitten im Wahlkampf aufgerissen. Grünen-Urgestein Hans-Christian Ströbele votierte im Oktober vor 20 Jahren als einer der letzten Widerständler eines pazifistischen Parteiflügels seiner Partei gegen den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan im Rahmen der US-Operation „Enduring Freedom" nach den Anschlägen vom 11. September. Bis zum Sommer 2017, als er aus dem Bundestag gesundheitsbedingt ausschied, stimmte Ströbele alljährlich gegen die Verlängerung dieses deutschen Auslandseinsatzes. Parteiintern musste er dafür immer viel Kritik einstecken. Aber über die Jahre wuchs auch der Respekt vor seiner Haltung, nicht nur unter den parteiintern immer weniger werdenden Pazifisten bei Bündnis 90/Die Grünen.
Spätestens im Sommer 2014, US-Präsident Obama machte aus dem Kampfeinsatz einen Ausbildungseinsatz, wurde auch den erstarkten Realo-Grünen im Bundestag klar, dass die Militäroperation der Bundeswehr, mehr als 6.000 Kilometer von Deutschland entfernt, ihre Ziele nie wird erreichen, nie umsetzen können. Von Brunnenbohren und Mädchenschulenbauen ist spätestens seit 2009 nach dem Luftangriff auf gestohlene Tanklaster und Zivilisten nahe Kundus keine Rede mehr.
Doch nicht nur die Grünen, sondern auch SPD und Union stimmten der immer neuen Verlängerung des UN-Mandats zu und die Bundestagsabgeordneten der genannten Parteien hätten es wohl auch noch in diesem Jahr getan, hätten die USA nicht den gesamten Einsatz zum 31. August für beendet erklärt. Allein der Umstand, dass US-Präsident Joe Biden das eingespielte Ritual der Mandatsverlängerung mit einem Mal beendet hat, bezeugt die Ohnmacht der deutschen Außenpolitik und die Orientierungslosigkeit der Parlamentarier in der höchsten deutschen Volksvertretung. Keiner der 709 Abgeordneten ist in diesem Frühjahr auf die Idee gekommen, sich bei der Bundesregierung zu erkundigen, wie denn der deutsche Rückzugsplan für Afghanistan aussieht. Höhepunkt dieses parlamentarischen Blindflugs war bis vor Kurzem die Rückkehr der letzten eingesetzten deutschen 264 Soldaten aus dem ehemaligen Hauptquartier am Abend des 30. Juni auf dem Luftwaffenstützpunkt im niedersächsischen Wunstorf. Kein Politiker aus dem Bundestag, der eigentlichen Verantwortlichen für den Einsatz, hatte sich dort blicken lassen. Die vermeintlich beste Ausrede hatte da noch Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer. Sie weilte an diesem Abend zu Besuch bei ihrem Amtskollegen in Washington.
Ausgerechnet die grüne Spitzenkandidatin Annalena Baerbock, die sechsmal dem Afghanistan-Mandat Enduring Freedom/Resolute Support der Bundeswehr im deutschen Parlament zugestimmt hat, fordert nun einen Untersuchungsausschuss gleich nach der Bundestagswahl, so Baerbock gegenüber FORUM. Damit ist sie auf der außenpolitischen Höhe der AfD angekommen, die sich ebenfalls eine parlamentarische Untersuchung des Außeneinsatzes der Bundeswehr am Hindukusch vorstellen kann, wie Alexander Gauland ebenfalls gegenüber FORUM bestätigt. Moralisch wäre die AfD gegenüber den Grünen in einem solchen Gremium klar im Vorteil: Die Abgeordneten der AfD, ebenso wie die der Linken, haben nie dem Mandat der Bundeswehr ab 2015 zugestimmt.
Von jenen Linken ist medial in diesen Tagen jedoch kaum etwas zu hören. Und doch waren sie es, die bereits seit dem rot-grünen Mandat zum Nato-Einsatz auf dem Balkan im Februar 1999 immer wieder gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr opponiert haben. Ganz offensichtlich will man bei den Linken die Verhandlungen zu einer etwaigen Regierungsbeteiligung, ob Grün-Rot-Rot oder Rot-Grün-Rot, im Herbst durch Benennung der Tatschen zur Afghanistan nicht belasten, zu viel Kritik schadet da nur. Keine der von Beginn des Afghanistan-Einsatzes an involvierten Parteien hat damit ganz offensichtlich ein Interesse an einer tatsächlichen Aufklärung des Versagens der deutschen Außen- und Afghanistanpolitik.
Informationspannen und späte, hastige Reaktionen
So ist es in erster Linie für alle Beteiligten einfacher, erst einmal auf Außenminister Heiko Maas (SPD) einzudreschen. Selbst SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz verweigert eine Prognose zur politischen Zukunft des derzeitigen Außenministers in seinem möglichen Kabinett nach dem 26. September. Denn die völlige Blindheit des Auswärtigen Amtes in Sachen Lageeinschätzung Afghanistan wirft viele Fragen auf, etwa: Wie kann es sein, dass die USA am Freitagmorgen,
13. August, vier Uhr deutscher Zeit anfängt, seine Staatangehörigen aus Kabul zu evakuieren, während Heiko Maas die Lage als beherrschbar bezeichnet? Am Vormittag des gleichen Tages räumt gleich nebenan die britische Botschaft in Kabul ihr Gebäude, während die deutschen Diplomaten an der Straße Mena 6 aus ihrem Fenster zuschauen können. Bei ihnen herrscht auf Anweisung des Auswärtigen Amtes in Berlin weiter voller Geschäftsbetrieb. Einen Tag später werden auf Anweisung des deutschen Botschafters Axel Zeidler 70 Botschaftsangehörige unter Bewachung der Bundespolizei in einem Konvoi in die US-Botschaft verfrachtet. Von dort geht es dann mit amerikanischen Chinook-Hubschraubern zum 30 Kilometern entfernten Flughafen der afghanischen Hauptstadt. Und auch hier muss die US-Airforce das deutsche Zögern wieder wettmachen. Die 70 Botschaftsangehörigen werden mit einer C-17-Transportmaschine der US-Air-Force nach Doha in Katar ausgeflogen. Das Auswärtige Amt wähnt ihre Mitarbeiter zu diesem Zeitpunk bereits in Taschkent. Eine Informationspanne? Die Bundesluftwaffe hatte auf Regierungsanweisung bis dahin noch nicht einmal einen eigenen Transporter zur Evakuierung aus Deutschland losgeschickt.
Eine Woche später sind die Kräfte dann tatsächlich alle angekommen. Nun geht es um die Rettung der Ortskräfte, das Kommando Spezialkräfte ist mit zwei Hubschraubern vor Ort, doch das Ausfliegen gestaltet sich schwierig. Jetzt soll mit den Taliban verhandelt werden – hoffentlich mit offenen Augen.