Social Media verändert die politische Kommunikation. Wahlkampf findet sekündlich statt, und die Aufmerksamkeiten verschieben sich.
Wir leben am Beginn einer neuen Epoche. In Windeseile erhalten wir Nachrichten vom Flugzeugabsturz in Frankreich, von der politischen Revolte in Afghanistan oder der Entdeckung des jüngsten Fußball-Talents in Brasilien. Die Kanzlerin hat das Internet im Jahr 2013 als „Neuland" bezeichnet – und noch immer Recht.
Wir werden überflutet von Informationen, denen wir nur schwierig entgehen können. Wir erleben eine Reizüberflutung, die gern zusammengefasst wird mit: Wir sind „overnewsed but underinformed" (Aldous Huxley). Ist es nicht erstaunlich, wie schnell das Hochwasser im Ahrtal aus den nationalen Medien verschwunden ist? Wie geht es eigentlich den Menschen dort heute?
Die Digitalisierung hat uns in eine Welt der Echtzeitdiskussion geführt. Sie ist anstrengend, kompliziert und alternativlos. Sie treibt die Gesellschaft vor sich her. Sie versetzt das politische System in einen „sofortigen Sofortismus" (Jean-Claude Juncker). Von jedem Politiker wird zu jedem Zeitpunkt an jedem Ort zu jedem Thema ein Statement erwartet. Geht es dabei um die Sache?
Früher wollten nur Agenturjournalisten die ersten sein. Heute gilt dies für alle Journalisten. Online first. Das trägt nicht zur Steigerung von Qualität, Solidität und Glaubwürdigkeit bei. Künstler übermalen ihre Bilder. Freundschaft wird stabiler. Wein wird besser. Manchmal gilt doch noch Gründlichkeit vor Schnelligkeit. Auch wenn die Versuchung medialer Präsenz groß ist.
Eine Wahl findet heutzutage nicht mehr alle vier Jahre statt, sondern sekündlich. Mit jedem Klick. Social-Media-Teams der Parteien messen die Reichweiten von Postings, zählen die Kommentare und teilen sie in „positiv" und „negativ" ein. Die neue Währung im System heißt: Aufmerksamkeit. Erfolgreiche Politik ist zu 99 Prozent erfolgreiche Kommunikation. Um die Wahrnehmung zu steigern, um Bewusstsein zu schaffen.
Politiker, Parteien und Regierungen reagieren darauf. Die Kommunikationsmaschinerien werden in Gang gesetzt. Sie wissen: Jeder Nutzer kann quasi ein kleiner Medienunternehmer sein. Manch einer nutzt das aus. Es droht eine weitere Fragmentierung der Gesellschaft; Partikularinteressen statt Gemeinwohl. Und es gibt keine gemeinsame Gesprächsbasis mehr: Hatte früher jeder die „Tagesschau" gesehen, hatte er morgens im Büro ein Gesprächsthema. Heute ist diese Basis weg. Wenn jeder gleichermaßen Sender und Empfänger ist, verändert sich automatisch die Rolle der klassischen Medien.
Klassische Medien noch immer bedeutsam
Sie werden nicht mehr als Aufklärer angesehen, sondern als Lügenpresse, als Einheit mit den herrschenden Eliten. Das ist neu. Dabei gilt auch: Für eine lebendige und funktionsfähige Demokratie haben klassische Medien nicht an Bedeutung verloren. Sie sind schlichtweg unverzichtbar, wenn sie ihren ureigenen Aufgaben nachkommen. Klassische Medien kontrollieren staatliches Handeln, filtern Informationen von relevant zu weniger relevant, ordnen uns die Welt ein, interpretieren und geben so auch eine Orientierung.
Diese Orientierung wiederum hat in der Nachrichtenwert-Theorie eine wissenschaftlich fundierte Grundlage. Anhand von 16 Faktoren wird geprüft, ob ein Ereignis zur Nachricht wird. Damit gewinnt die Information an Qualität. Im Netz steht die Qualität der Information erst einmal im Hintergrund. Es geht zuallererst um Emotionen. Heutzutage gilt ein Post oder eine Meinung schon als Information. Viele glauben, einen Text verstanden zu haben, wenn sie die Überschrift gelesen haben. Die Vermischung von Meinung und Nachrichtenwert nimmt zu und ist eine Bedrohung der Demokratie.
Die grundgesetzlich verankerte Meinungsfreiheit ist in sozialen Netzwerken nicht garantiert. Dort nehmen privatwirtschaftliche Unternehmen wie Facebook oder Google Einschränkungen vor. Steht der wirtschaftliche Erfolg über dem Grundgesetz der Bundesrepublik? Dabei kann die Technisierung nicht nur Gift, sondern auch das Gegengift sein.
Demokratie lebt vom Austausch unterschiedlicher Meinungen, also vom Diskurs. Für klassische Medien gibt es hierfür Standards, im Netz ist das nicht so. Gleichzeitig findet eine wechselseitige Medienkorrektur statt: Medien beobachten Medien und nehmen Einfluss auf das Agenda Setting. Wie stark bestimmen die vernetzten Vielen die politische Agenda? Herrscht eine fünfte Gewalt?
Wenn Politiker nur noch auf Themen im Netz reagieren, riskieren sie ein gefährliches Meinungskartell, das weder durch die Wahrheit legitimiert noch in irgendeiner Weise repräsentativ ist. Politik ist heute mehr denn je gefordert, nicht nur zu informieren, sondern zu erklären. Wie ein Erklärbär – orientiert an Zielgruppen, an Plattformen, an Formaten. So stark differenziert wie noch nie in der Geschichte von Wahlen in Deutschland. Das ist anstrengend und alternativlos.
Die Digitalisierung bietet dabei alte Phänomene in neuen Dimensionen. Falschnachrichten gab es schon immer. Aus der Wissenschaft wissen wir allerdings: Fake News verbreiten sich im Netz sechsmal schneller als wahre Nachrichten. Sie sind Brandbeschleuniger für Krisen und schaffen den Weg aus der virtuellen in die reale Welt. Das wirkt sich auf die Geschwindigkeit aus. Hatte ein Politiker früher ein Wochenende zum Nachdenken, darf er heute fast schon in Echtzeit Entscheidungen treffen. Getrieben von der Erwartungshaltung und dem eigenen Anspruch an seine Wahrnehmung.
Tun sie es nicht, sind die Nutzer empört. Tun sie es, sind sie es auch. Emotio vor Ratio.
Es fällt auf: Führungskräfte werden in Zeiten einer Empörungskultur vorsichtiger. Das geht zulasten ihrer Entscheidungen. Die Beeinflussung von Entscheidungen ist genau Sinn und Zweck derer, die empört sind. Hinzu kommt: Hassrede ist ein lukratives Geschäft im Internet. Je öfter ein Post geteilt wird, desto erfolgreicher ist er in wirtschaftlicher Hinsicht.
Bewusstsein ist relevant für Krisen
Gleichzeitig greift der Mechanismus der Algokratie, nämlich wenn Algorithmen die Nachrichten auswählen, die dem Nutzer angezeigt werden. Sie wirken damit direkt auf Grundzüge des demokratischen Systems: auf den freien Zugang zu Informationen, auf die Meinungsbildung, auf die Meinungsvielfalt. Sie befeuern zusätzlich die Entstehung von Filterblasen. Dies gilt für alle Beteiligten im System. Während an der AfD interessierte Menschen nur noch Informationen aus AfD nahen Kreisen zugespielt bekommen, driften Führungskräfte in eigene Blasen ab und suchen Bestätigung. Hierfür werden Ja-Sager geboren. Es hilft der Blick von außen. Denn das Bild, in dem du stehst, kannst du nicht selbst betrachten.
Das Bewusstsein hierfür ist umso relevanter bei der Bewertung von Krisen. Denn es gilt heutzutage: Über eine Krise entscheidet in einer Algokratie der Politiker nicht mehr selbst, sondern wenn ein Bürger eine Krise behauptet. Ein Paradigmenwechsel hat stattgefunden.
Dieser Wechsel zeigt sich grundlegend: Grenzen verschwinden. Die Differenzierung zwischen interner und externer Kommunikation findet nicht mehr statt. Ein Beitrag bei Twitter ist nicht mehr nur für die eigenen Parteimitglieder sichtbar. Eine Information aus einer internen Sitzung ist auf Fingertipp für das ganze Netz einsehbar. Die Vertrautheit in Kabinettssitzungen und Koalitionsverhandlungen schwindet. Noch vor wenigen Jahren gab es eine Partei, die auf die totale Transparenz gesetzt hat. Überlebt haben die „Piraten" das System nicht. Damals schrieb der chinesische Philosoph Byung-Chul Han: „Transparent ist nur das Tote." Es braucht (den abgeschlossenen) Raum für Vertrauen. Denn Vertrauen ist die eigentliche Währung. Wer wahrhaftig kommuniziert, ist glaubwürdig. Wer glaubwürdig ist, hat auch die Deutungshoheit.
Algorithmen sind vom Menschen gemacht, Algorithmen werden vom Menschen rezipiert. Die Herausforderung für Politik, aber auch Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft ist die Zusammenführung der Welten von analog und digital. Die Demokratie muss das Netz ertragen; das Netz muss aber auch die Demokratie aushalten. Verantwortlich für den Umgang damit ist jeder Einzelne.