Das Land am Hindukusch wird zum Nährboden für IS und Al Kaida
In Afghanistan kehrt das Gespenst des Terrors zurück. Am Montag wurde der Flughafen der Hauptstadt Kabul mit Raketen beschossen. Der regionale Ableger der Terrormiliz „Islamischer Staat" (IS), der „IS Provinz Khorasan" (ISKP), reklamierte die Attacke für sich. Die Scheinwerfer der Weltöffentlichkeit richten sich nun erneut auf die IS-Dschihadisten, deren hochfliegende Kalifatspläne für Syrien und den Irak zunächst gescheitert schienen. Nach dem verheerenden Selbstmordattentat vom Donnerstag vergangener Woche hatte US-Präsident Joe Biden bereits gewarnt, dass „die Lage vor Ort nach wie vor extrem gefährlich" sei.
Die radikalislamischen Taliban haben zwar in blitzartiger Geschwindigkeit Afghanistan erobert. Doch das Land kontrollieren sie noch lange nicht. Im Pandschirtal im Nordosten hat sich eine fünfstellige Zahl von Aufständischen verbarrikadiert. Zudem sitzen bei den Verhandlungen der Taliban über die künftige Regierung auch Vertreter des gefürchteten Hakkani-Netzwerks mit am Tisch. Der Gruppe werden einige der tödlichsten Terroranschläge der vergangenen Jahre vorgeworfen. Sie spielt offenbar eine Doppelrolle: Einerseits gelten die Hakkani-Mitglieder als die besten Kämpfer der Taliban. Andererseits pflegen sie enge Beziehungen zum Terrornetzwerk Al Kaida.
Nach dem Abzug der internationalen Truppen aus dem Land am Hindukusch ist eine völlig neue Dynamik entstanden. Mit dem Vergeltungsschlag der Amerikaner gegen zwei hochrangige Mitglieder des ISKP ist klar: Bidens Strategie, dass die Amerikaner knapp 20 Jahre nach den Terrorattacken vom 11. September 2001 Afghanistan den Rücken kehren, ist passé. Der Chef des Weißen Hauses hat weitere Strafaktionen angekündigt. Washington wird den Anti-Terror-Krieg in Zentralasien fortsetzen. Nicht mit der Entsendung von vielen Tausend Soldaten – dafür gibt es in den USA keine Mehrheit. Aber durch Luftschläge von Kampfjets oder Drohnenangriffe.
Plötzlich ergeben sich bizarre Allianzen. Die Taliban und der IS sind sich spinnefeind. Erstere haben zum Ziel, Afghanistan im Rahmen einer islamischen Verfassung wieder aufzubauen – ohne Frauenrechte, Wahlen und Pressefreiheit. Letztere streben nach einem noch viel rigideren islamistischen Gottesstaat, den sie notfalls herbeibomben wollen. Aus dieser Konstellation ergibt sich die Geburt einer bizarren Allianz: Amerika und die Taliban gegen den IS. Es ist ein Teufelskreis. Je mehr die USA in Afghanistan militärisch eingreifen – und sei es nur aus der Luft –, desto mehr stacheln sie die IS-Zellen gegen die „Ungläubigen" an. Weitere Terrorattacken sind die Folge, die erneute Militäraktionen der Vereinigen Staaten nach sich ziehen dürften.
Der IS verfolgt eine Eskalations-Strategie. Er feiert jeden Terroranschlag als Propaganda-Erfolg, um neue Kämpfer zu rekrutieren. Der ISKP mag derzeit noch eine zahlenmäßig überschaubare Terrororganisation sein, die nach Einschätzung von Experten über 1500 bis 2000 Kämpfer verfügt. Doch diese bekommen Zulauf aus dem Ausland. Bereits vor dem endgültigen Abmarsch der Amerikaner in der Nacht zum Dienstag wurde Afghanistan zu einem Rückzugsgebiet für Extremisten. Nach Schätzungen der UN sickerten zwischen 8000 und 10.000 Dschihadisten aus Zentralasien, dem Nordkaukasus, Pakistan und aus der muslimischen Xinjiang-Region in West-China ein. Viele von ihnen sind mit Al Kaida verbandelt. Andere tendieren zum radikaleren ISKP. Es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, bis sich die wieder erstarkten Terrorgruppierungen auch weltweit Anschlagsziele suchen.
Die Aussichten sind düster. Afghanistan wird aller Wahrscheinlichkeit im Chaos versinken, wie Libyen oder der Irak nach den Militär-Interventionen des Westens. Nach der Tötung der Langzeit-Autokraten Muammar al-Gaddafi beziehungswiese Saddam Hussein zerfielen die Länder in Anarchie. Stämme, Clans und Warlords bekämpften sich gegenseitig.
Eine Terror-Hochburg Afghanistan wäre aber für die ganze Welt eine Bedrohung. Nur ein pragmatischer Kurs der politischen Einbindung könnte die Risiken eindämmen. Die USA, Europa, Russland, China, die Taliban, Afghanistans Nachbarländer: Alle müssen sich an einen Tisch setzen, um eine Anti-Terror-Strategie für den Hindukusch zu entwerfen.