Vom Dünenkurs im Seebad Zandvoort hinein in den Tempo-Tempel nach Monza. Für die Formel-1-Piloten ist der „Gran Premio" von Italien ein Hochgeschwindigkeits-Festival, für die Fans Lebenslust und -freude pur.
Was für ein Furcht einflößender Name – Monza! Das Industriestädtchen mit seinen 125.000 Einwohnern, 15 Kilometer nordöstlich von Mailand, ist Himmel und Hölle. Drei Tage lang verwandeln die Fans, in Italien „Tifosi" genannt, und die Ferraristi, das sind die Ober-Fans von Ferrari, Monza in einen Hexenkessel. Das lombardische Städtchen verfällt einer Ferrari-roten Hysterie. Es herrscht das „Grande Casino". Aber Vorsicht bei diesem Begriff. Auf Deutsch heißt das „Großes Chaos". Und dieser „Zustand von vollständiger Unordnung" ist italienisch perfekt und liebenswert noch dazu.
Was die Atmosphäre betrifft, so ist der Ferrari-Heim-Grand-Prix der mit Abstand emotionalste WM-Lauf der ganzen Saison. Hier wird der Grand Prix zelebriert, geliebt, gelebt und manchmal auch gelitten. Wer es gern hysterisch, euphorisch und zugleich liebenswert mag, der kommt beim „Gran Premio" voll auf seine Kosten. Wenn der Morgen graut und der Nebel wie Christbaum-Lametta über dem Park hängt, schälen sich die Hartgesottenen aus ihren Ferrari-Decken. Sie stolpern aus ihren Zelten, brauen ihren Cappuccino und schmieren ihre Paniono (Brötchen). Die Lagerfeuer legen bei Sonnenaufgang Spinnweben aus blauem Rauch über den Park. Der Morgen in Monza aber kommt in Ferrari-Röte. Dann sind die „Tifosi" von Kopf bis Fuß auf ihre (Ferrari-)Helden eingestellt. Wenn hier ein Roter, ein Ferrari mit dem schwarzen Cavallino (Pferdchen), siegt, dann brechen alle Dämme. Das „Autodromo Nazionale di Monza" ist dann ein tosendes „rotes Meer".
Der „Gran Premio" ist eine Aufführung mit magischem Namen, viel Pathos und einer langen Tradition. Seit Beginn der „modernen" Formel-1-Weltmeisterschaft 1950 wird der GP Italien jedes Jahr in Monza ausgefahren. Nur 1980 wechselte der Italien-GP wegen Umbauarbeiten ins Autodromo Enzo é Dino Ferrari nach Imola, nur 80 Kilometer vom Ferrari-Firmensitz Maranello entfernt. 200 Kilometer weiter vom „roten" Hauptquartier hat Ferrari im Tempodrom von Monza am Sonntag zum 71-mal ein Heimrennen. Speziell dieser WM-Lauf in Monza erzeugt bei den Fahrern Nervenkitzel, aber auch Ehrfurcht und eine gehörige Portion Respekt. Bei den Kurvennamen Parabolica, Lesmo, Curva Granda oder Variante Ascari kriecht einem ein kaltes Kribbeln den Rücken hinunter. Die Strecke hat sich aber über all die Jahre verändert. Durch die berühmten Steilkurven sind die Piloten letztmals 1961 gerast.
Mit den Jahren entschärft und sicherer gemacht
Mittlerweile sind diese steilen Hänge verkommen, verwittert und nur noch stumme Zeugen der Vergangenheit. Durch den Einbau von Schikanen wurde der Kurs entschärft und sicherer gemacht. Trotzdem ist Monza immer noch eine pure Vollgasstrecke mit extrem hohen Topspeeds. Heute „fliegen" die Piloten bei der Hochgeschwindigkeits-Wallfahrt mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 250 km/h über den 5,793 Kilometer langen Kurs mit seinen sieben Rechts- und vier Linkskurven. Die Höchstgeschwindigkeit liegt heute bei 350 km/h. 2004 stellte der Brasilianer Antonio Pizzonia im BWM-Williams in Monza eine Höchstgeschwindigkeit von 369,9 km/h auf und überbot Schumachers Rekord im Ferrari von 368,8 km/h aus dem Jahr 2003. Ein anderer Brasilianer, Rubens Barrichello, war lange Zeit der Seed-König der F1. Der Ferrari-Pilot fuhr 2004 mit einem Schnitt von 260,395 km/h die schnellste Poleposition aller Zeiten und mit 257,321 km/h auch die schnellste Rennrunde. Erst 2018 knackte Kimi Räikkönen ebenfalls im Ferrari den Bestwert von Barrichellos Pole mit 263,587 km/h. Im vergangenen Jahr 2020 nagelte Monza-Monster Hamilton im Mercedes mit einem Durchschnittstempo von 264 km/h die schnellste Poleposition in den Asphalt. Aber es ging noch schneller. Juan Pablo Montoya hält den inoffiziellen Geschwindigkeitsrekord. 2005 wurde das Vollgas-Tier aus Kolumbien bei Monza-Testfahrten im McLaren-Mercedes mit 372,6 km/h gemessen. Die knappste Entscheidung in der F1-Historie fiel 1971 ebenfalls auf dem Highspeed-Kurs: Der Brite Peter Gethin konnte in einem denkwürdigen Rennen seinen ersten und einzigen Grand Prix mit 0,01 Sekunden vor dem Schweden Ronnie Peterson im March gewinnen. Das Speed-Fazit im Vollgas-Tempel heißt: Gas geben, bis der Motor platzt. Heute geben die Piloten zu 83 Prozent in der Runde Vollgas.
Der viermalige Champion Sebastian Vettel sagt über den Temporausch in der Lombardei: „Der Kurs ist körperlich zwar nicht besonders anstrengend, aber trotzdem ist er nicht einfach zu fahren. Von außen her erscheint der Kurs als langweilige Strecke, weil man sagt, hier gibt es keine richtigen Kurven. Aber in Monza ist es extrem wichtig, eine perfekte Runde hinzubekommen. Weil es fast unmöglich ist, jede Kurve und jede Schikane ideal zu treffen." Der siebenmalige Weltmeister Lewis Hamilton über seine Arbeit im Autodromo Nazionale: „Als Fahrer stauche ich hier das Auto vor den Schikanen dermaßen zusammen, wuchte den Wagen um die Ecken und jage wieder mit 300 Stundenkilometern weiter. Je schneller man ist, umso präziser muss man sein. Aber es ist ein großartiges Gefühl, hier im Park auf dieser atemberaubenden Strecke die höchsten Geschwindigkeiten der ganzen Saison zu fahren. Und die Atmosphäre ist etwas ganz Besonderes." Mit fünf Erfolgen ist Hamilton gemeinsam mit Michael Schumacher Rekordsieger im Monza-Mekka. Vettel erlebte 2008 (Toro Rosso) in der „Kathedrale" seinen F1-Premierensieg, 2011 und 2013 folgten beim GP Italien zwei weitere Siege mit Red Bull. Der Monegasse Charles Leclerc bescherte den Italienern 2019 einen Heimsieg. Acht Jahre nach Fernando Alonso (2010) hat das „rote Juwel" die Scuderia (Rennstall) schließlich erlöst. Nebenbei: Ludovico Scarfiotti war 1966 der letzte Italiener, der für Ferrari in Monza siegreich war. Immerhin: Ferrari hat in den 70 Jahren GP Italien mit 19 Erfolgen die meisten Siege eingefahren, gefolgt von McLaren (10). Eine Sternstunde erlebte 2020 Pierre Gasly. Der Franzose feierte als Überraschungssieger im Alpha Tauri seinen ersten F1-Triumph.
Viele tragische Unfälle auf der „pista magica"
In diesem schaurig-schönen königlichen Park, einst Sommerresidenz verschiedener italienischer Könige, ist die „Pista Magica", die „magische Piste", mit ihrem grauen Asphaltband eingebettet. Dieser herrliche „Parco Reale" mit uralten Eichen, Linden und Buchen als Schattenspender ist ein trügerisches Paradies. In diesem „Garten Eden", wie das Paradies auch bezeichnet wird, wurden nicht nur Triumphe gefeiert, auch Tragödien erlebt und Tränen vergossen. „Man kann fast das hässliche Lachen des Teufels in der Ferne hören, wie er schon so viele junge Männer hierher gelockt und begraben hat", berichtete mir ein älterer Kollege. Denn an der Strecke im „Parco" stehen mehr Kreuze als an irgendeiner anderen Rennstrecke. Neun F1-Piloten, fünf Motorradfahrer und mehr als 40 Zuschauer fanden an der Tempelstätte des Tempos den Tod. In diesem Paradies verunglückte 1955 der Italiener Alberto Ascari bei Privatfahrten tödlich. Vor fast genau 60 Jahren, am 10. September 1961, kam Wolfgang Graf Berghe von Trips ums Leben. Als Führender der WM-Wertung benötigte der Diplom-Landwirt aus Köln nur noch einen Sieg, um sich zum Champion zu krönen. Nach einer Kollision mit dem Schotten Jim Clark im Lotus prallte der Graf aus dem Rheinland bei der Anfahrt zur Parabolica mit seinem Ferrari gegen die Drahtabzäunung, wurde bei einem Überschlag aus dem Auto geschleudert und brach sich beim Aufprall das Genick. Trips war sofort tot. 15 Zuschauer riss er bei dieser Tragödie mit in den Tod, 60 wurden verletzt. Der Rheinländer wurde nur 33 Jahre alt. Am 5. September 1970 verunglückte Jochen Rindt im Abschlusstraining tödlich. In der Parabolica krachte die gebürtige Mainzer F1-Ikone mit seinem Lotus in die Leitplanken. Ursache war eine gebrochene Bremswelle vorne rechts. Rindt erlag seinen Verletzungen mit 28 Jahren.
Den Schweden Ronnie Peterson erwischte es 1978 nach einem Startunfall. Sein Lotus ging in Flammen auf. Peterson konnte noch lebend geborgen werden, starb aber nach mehreren Operationen 34jährig an einer Lungenembolie. Soweit die bekanntesten Opfer, die im „Paradies" ihr Leben ließen.
Am Wochenende aber dürfen sich die Tifosi und F1-Liebhaber und TV-Zuschauer freuen. Zum zweiten Mal nach Silverstone wird in Monza am Samstag, 16.30 Uhr (RTL und Sky), ein Sprint-Qualifying über 100 Kilometer (18 Runden) ausgefahren. Die Startaufstellung für dieses „Mini-Rennen" ergibt sich aus der klassischen, dreigeteilten Qualifikation am Freitag (18 Uhr). Das Ergebnis des Sprint-Qualifyings am Samstag stellt dann die Startaufstellung für das Rennen am Sonntag (15 Uhr RTL und Sky) dar. Drei Tage Renn-Action im schaurig-schönen Paradies, in dem Tifosi und Ferraristi ihren „Gran Premio" leben und zelebrieren. Die Streckenbetreiber rechnen nach einem bestimmten (Corona-)Plan mit einer Gesamtauslastung der Zuschauer von 70 bis 80 Prozent in der Monza-„Kathedrale".