Der urdeutsche Brauch ist ein Fall fürs Immaterielle Weltkulturerbe
Wussten Sie, dass es auf Englisch kein Wort für Frühschoppen gibt? Es wird nicht benötigt, denn „der Engländer an sich" macht samstagabends dermaßen einen drauf, dass er sonntagmorgens nicht aus dem Bett kommt. Auch andere Sprachen haben kein Wort für Frühschoppen – keine Sprache außer der deutschen.
Ich durfte als Zehnjähriger zum ersten Mal mit zum Frühschoppen. Das war so etwas wie ein Initiationsritus in die männliche Dorfgemeinschaft. Der Frühschoppen wurde erfunden, damit einem das Hochamt nicht so lange vorkam. Für die Jüngeren und Zugereisten: Traditionell waren sonntäglicher Kirchgang und direkt anschließender Frühschoppen eng verbunden. Der Sonntagmorgen hatte praktisch zwei rituelle Teile: zuerst die Sonntagmorgen-Messe, das sogenannte Hochamt, in St. Martin, St. Peter oder St. Wasweißich und danach direkt zu Rosi, zu Heidi oder zum Dorfkrug.
Wie jeder Ritus war der Ablauf streng reglementiert: Die Männer saßen während der Messe nicht auf den Kirchenbänken, sondern standen hinten unter der Empore oder sonst wo möglichst nah am Ausgang. Wenn die Messe fast durchgestanden war und zum Abschluss „Ein Haus voll Glorie schauet" erklang, drückten sich bei „voll Gloo-rie" die ersten Männer schon aus dem Kirchenportal, „im Hauuu-se Dein" hörten sie nur noch von Ferne, und während die Orgel und die Frauen den Schlussakkord („ge-he-bor-gen seiiin") schmetterten, rief wenige Hundert Meter entfernt schon jemand: „Rosi, zapf mal fünf Pils". Ich nehme an, wegen dieses Rituals befanden sich früher Dorf- und Vorstadtkneipen immer in der Nähe von Gotteshäusern.
Meine Oma behauptete, sie sei froh, wenn Opa gleich nach der Kirche zum Frühschoppen verschwand, da sei er gut aufgehoben und ihr beim Kochen des Sonntagessens aus den Füßen. Aus heutiger Rollen- und Geschlechterverständnis-Sicht mutet dies bedenklich an. Immerhin musste mein Opa nach dem Sonntagsbraten beim Abspülen helfen. Aber zwischen „Ein Haus voll Glorie schauet" und Rinderbrühe mit Markklößchen konnte er ganz … äh ... Mann sein.
Beim Frühschoppen habe ich immer nur Männer gesehen. Außer der Wirtin natürlich. Und andere Jungen meines Alters. Söhne eben. Töchter durften nicht mit zum Frühschoppen. Oder sie waren klug genug und wollten gar nicht mitkommen. Die Gespräche waren – so weit ich mich erinnere – belanglos, aber leidenschaftlich: Fußball, Autos, ein wenig Dorf- und Nachbarschaftstratsch. Themen, die der geistigen Entspannung dienten. Und Politik, aber da wiederholten sich die Meinungen so offenkundig, dass das rasch langweilig wurde.
Keine Bange: Die Jungen unter 16 bekamen kein Bier. Wir hatten die freie Auswahl zwischen gelber Limo und Malzbier. Wir wählten immer Malzbier, weil sich das irgendwie näher dran anfühlte an den Vätern. Das nennt man, glaube ich, Bier-Pressure. Und um Punkt 12 Uhr war Schluss, dann gingen alle heim zum Sonntagsbraten.
Ich war schon seit Jahrzehnten zu keinem Frühschoppen mehr und ehrlich gesagt wohl ähnlich lange auch nicht mehr im Hochamt – was wiederum beweist, wie eng beide Rituale ineinander verzahnt waren. Den meisten meiner Freunde, die damals zwischen Limo und Malzbier wählen durften, geht es ebenso. Viele Kneipen in den Dörfern und Vorstädten haben sonntagmorgens gar nicht mehr geöffnet. Das gilt inzwischen allerdings auch für etliche Gotteshäuser.
Vielleicht wirkt deshalb das Wort Frühschoppen so angestaubt. Bald ist es ähnlich antiquiert wie „auf der Walz sein" oder „jemanden freien", und vielleicht verschwindet es irgendwann völlig aus dem Alltagssprachgebrauch. Das wäre dann eine negative Anglisierung – gibt’s nicht auf Englisch, dann brauchen wir dafür auch kein Wort auf Deutsch.
Mein Vorschlag: Setzen wir den Frühschoppen auf die Liste des „Immateriellen Unesco-Weltkulturerbes" wie zum Beispiel auch Choralsingen oder Kasperle-Theater.
Ich würde mich freiwillig bereit erklären, den alten Frühschoppen-Brauch wieder zu pflegen. Ich spüle danach auch das Sonntagsessen-Geschirr ab, versprochen. Also: Wer macht mit?