Viktoria Berlin ist eine Bereicherung für die 3. Liga, das hat auch das spektakuläre Spiel beim SC Verl gezeigt. Nun kommt es zum Top-Duell im Jahnsportpark gegen den Tabellendritten Wehen Wiesbaden.
Nur sehr selten ist eine vierstündige Busreise ein Vergnügen, doch diesmal kam sie für Benedetto Muzzicato gerade recht. Der Trainer von Viktoria Berlin hatte dadurch viel Zeit, um das wilde 3:3 im Auswärtsspiel in der 3. Liga beim SC Verl noch mal Revue passieren zu lassen. Die vielen vergebenen Chancen, die drei Gegentore, das Eigentor, die Rote Karte, der Last-Minute-Ausgleich – all das ging Muzzicato während der langen Heimreise durch den Kopf. Und natürlich auch in den Tagen danach, denn so eine Partie schüttelt man nicht einfach so ab.
„Spektakel ist das richtige Wort", sagte der Trainer in einem Tonfall, der erkennen ließ, dass er selbst nicht ganz glauben konnte, was er da an der Seitenlinie alles gesehen hatte. „Für Außenstehende war es richtig interessant, für mich eher bitter", fasste der Deutsch-Italiener zusammen. Nüchtern betrachtet – und das fiel bei diesem verrückten Spiel allen Beteiligten schwer – sei es „ein verdientes Unentschieden" gewesen, meinte Muzzicato: „Den Punkt nehmen wir mit."
„Für mich war es eher bitter"
Der Zähler sorgte dafür, dass der Aufsteiger weiter ganz oben mitmischt. Einzig der SC Magdeburg ist mit zwei Punkten besser platziert als Viktoria, die am Samstag (11. September/14.00 Uhr) im Jahnsportpark den SV Wehen Wiesbaden empfängt. Es ist das Topspiel des achten Drittliga-Spieltags: Zweiter gegen Vierter. Außerdem trifft Spektakel auf Spektakel, denn auch Wehen Wiesbaden hat am vergangenen Wochenende für reichlich Dramatik gesorgt. Beim 4:3-Sieg beim 1. FC Saarbrücken hätte das Team von Trainer Rüdiger Rehm beinahe noch eine 4:0-Pausenführung aus der Hand gegeben.
„Wir hatten Angst, etwas zu verlieren", kritisierte Rehm, der in Berlin von seiner Mannschaft die Leidenschaft und spielerische Klasse der ersten Halbzeit sehen will: „Da hat man gemerkt, dass wir Qualität haben." Auch die Verantwortlichen von Viktoria haben das erkannt, sie sehen den Gegner klar als Favoriten an.
Doch es gibt keinen Grund für den Aufsteiger, sich kleiner zu machen, als er ist. Etwa ein Fünftel der Saison ist absolviert, und es lässt sich festhalten: Viktoria steht nicht zufällig oder gar zu Unrecht da oben. Das junge Team, das aus vielen Aufstiegshelden besteht, spielt einen erfrischenden und modernen Fußball. Und es zeigt Kämpferherz. Nachdem den Himmelblauen schon gegen den FSV Zwickau (1:1) und danach gegen Waldhof Mannheim (1:0) jeweils in der 89. Minute der „Lucky Punch" gelungen war, setzten sie in Verl noch einen drauf. In der fünften Minute der Nachspielzeit gelang Tolcay Cigerci der Treffer zum 3:3, der dem wilden Kick die Krone aufsetzte. „Wir haben in den letzten Spielen immer wieder Comeback-Qualitäten gezeigt", zeigte sich Trainer Muzzicato mit der Einstellung seiner Mannschaft mehr als zufrieden.
Der Ausgleichstreffer war zudem ein Abbild des Fußballs, mit dem Viktoria die Herzen der Berliner Fußballfans erobern und sich als Nummer drei in der Hauptstadt hinter Hertha BSC und Union Berlin etablieren will: Nach einem gegnerischen Ballverlust schaltete das Muzzicato-Team blitzschnell auf Angriff um. Der eingewechselte Moritz Seifert legte zurück auf Cigerci, der nicht lange fackelte und den Ball gegen die Laufrichtung des Torhüters im kurzen Eck unterbrachte.
Es war bereits der fünfte Saisontreffer für Cigerci, der in der 3. Liga nicht nur die Torjägerliste anführt, sondern dank seiner drei Vorlagen auch die Scorerwertung. Sein jüngerer Bruder Tolga stand einst bei Hertha BSC und dem VfL Wolfsburg unter Vertrag, aktuell spielt er in der Türkei bei Istanbul Basaksehir FK. „Wir telefonieren nahezu täglich", verriet Tolcay. In den Gesprächen gehe es – natürlich – fast immer um Fußball, „was man gemacht hat und was man noch besser machen könnte". Der Viktoria-Spieler betonte: „Ich gönne ihm den Erfolg und er mir genauso."
Aktuell kann Tolcay Cigerci seinem Bruder viel Positives berichten. Der Neuzugang hat ohne Frage bei Viktoria eingeschlagen. Schon in den vergangenen Jahren beim Berliner AK und VSG Altglienicke war deutlich zu sehen, dass die Regionalliga für den technisch versierten Offensivspieler zu klein ist. Den Sprung eine Klasse höher meistert Cigerci bei Viktoria problemlos.
Vor allem das Zusammenspiel mit Enes Küc und Lucas Falcao ist für Cigerci einer der Gründe für den Höhenflug: „Wir kennen uns jetzt schon gut und harmonieren. Ich denke, das sieht man auch." Der 26-Jährige weiß aber auch, dass der aktuelle Lauf des Aufsteigers schnell enden kann. Doch das werde ihn nicht aus der Bahn werfen, dafür habe er schon zu viel erlebt. „Ich bin jetzt schon etwas länger in diesem Fußballgeschäft und habe vielleicht etwas mehr gesehen als manch anderer", sagte Cigerci. Wichtig sei, dass das Team Muzzicatos Ideen vertraue: „Der Trainer gibt uns was mit, und wir setzen es auf dem Platz um."
So wie in der Anfangsphase gegen Verl, als Viktoria drückend überlegen war. „Wir hatten einen guten Matchplan", lobte sich Muzzicato selbst. Doch das einzige Tor im ersten Durchgang machten die Gastgeber – und das wurmte Muzzicato gewaltig. „Wir hatten so viele Chancen, so viele Ecken, so viele Bälle in der Box", sagte er, „dass da nichts bei rumgekommen ist, schmerzt mehr als die drei Gegentreffer." Der Trainer ließ seinen Frust in der Kabine raus, „mit den richtigen Worten in der Halbzeitansprache kamen die Jungs mit mehr Intensität raus", so Muzzicato. Was dann folgte, war eine irre Achterbahnfahrt.
Kritik an Yannis Becker wegen „dämlicher" Roter Karte
47. Minute: 1:1-Ausgleich durch Cigerci. 52. Minute: 2:1-Führung durch Björn Jopek. 61. Minute: 2:2-Ausgleich durch ein Eigentor von Patrick Kapp. 66. Minute: Abseitstor für Verl. 75. Minute: 3:2-Führung für Verl. 89. Minute: Rote Karte für den Berliner Yannis Becker nach einer rüden Grätsche. 90.+5 Minute: 3:3-Ausgleich durch Cigerci. Was für ein Wahnsinn! Und die zahlreichen Chancen sind noch nicht mal aufgelistet. „Wir drehen das Spiel und geben es dann wieder aus der Hand", haderte Muzzicato: „Wir haben etwas die Balance verloren und hatten keine gute Kontrolle im Zentrum. Und dann hat Verl die Qualität, um daraus Kapital zu schlagen."
Vielleicht wäre das Spiel weniger hektisch und auch erfolgreicher für Viktoria verlaufen, hätte Enes Küc in der 5. Minute nicht einen Elfmeter verschossen. Der Offensivspieler, der zuvor selbst gefoult worden war, lief relativ lässig an und schickte Torhüter Thiede auch in die falsche Ecke –
doch der Ball landete am linken Pfosten. Vorwürfe aus der Mannschaft gab es deswegen keine. „Über den Elfmeter brauchen wir nicht reden, man verschießt auch mal einen", sagte Muzzicato. Weniger milde gestimmt war der Trainer mit Mittelfeldspieler Yannis Becker, dessen Rote Karte er als „dämlich" bezeichnete: „Und das weiß Yannis selber, damit macht man den Gegner immer stark."
Beim Gegner sitzt in der Regel auch ein Trainer mit italienischen Wurzeln auf der Bank: Guerino Capretti. Doch der war „aus familiären Gründen", wie Verl verlauten ließ, nicht anwesend. Ein heißblütiges italienisches Trainer-Duell an der Seitenlinie hätte sehr gut zu diesem spektakulären Spiel gepasst. Doch es war auch so eine Menge drin.