Das Zusammenspiel von Max Kruse und Taiwo Awoniyi war zum Saisonstart herausragend. Die beiden Angreifer sind völlig unterschiedliche Spielertypen – und ergänzen sich gerade deshalb so gut.
Urs Fischer ist ein sehr rationaler Mensch, aus Aberglauben handelt der Schweizer eigentlich nie. Doch in diesem speziellen Fall beschlich Fischer das Gefühl, das Ende eines Laufs heraufzubeschwören, indem er einfach nur darüber redete. „Nein, will ich nicht", antwortete der Trainer von Union auf die Frage, ob er etwas über das besondere Spielverständnis zwischen seinen beiden Angreifern Max Kruse und Taiwo Awoniyi sagen könnte: „Sie müssen es ja beibehalten."
Wenn etwas gut läuft, wollen Fußballer lieber nicht so gerne darüber reden, weil ansonsten der Kopf wieder zu arbeiten und der „Flow" schnell verfliegen kann. Und bei Unions Sturm-Duo läuft es richtig gut: Sechs Pflichtspiel-Tore haben sich die beiden in dieser Saison schon aufgelegt, sie sind für 70 Prozent aller Union-Treffer verantwortlich. Noch mehr als ihre Effizienz ist auffällig, wie gut die beiden unterschiedlichen Stürmertypen zueinanderpassen. Hier der schnelle Kraftprotz Awoniyi, dort der filigrane Freigeist Kruse. Beide scheinen sich gesucht und gefunden zu haben.
„Sie finden sich im Moment wirklich", sagte Fischer hochzufrieden: „In Max haben wir einen Kreativspieler, der den letzten Pass spielen kann. Und in Taiwo jemanden, der immer wieder die Tiefe sucht, der ackert, der sich aufreibt." Ähnlich beschreibt Kruse die Harmonie zwischen ihm und Awoniyi: „Er arbeitet hart, kommt viel über den Kampf und Zweikampfstärke, und dann versucht man, seine Schnelligkeit einzusetzen."
Besonders zu bewundern war das beim zweiten Treffer beim jüngsten 2:1-Heimsieg gegen Borussia Mönchengladbach: Kruse vernaschte erst Rio-Weltmeister Christoph Kramer und steckte den Ball dann zum genau richtigen Zeitpunkt und mit genau der richtigen Passschärfe zu Awoniyi durch. Der Nigerianer wiederum hatte sich im genau richtigen Zeitpunkt von seinem Gegenspieler gelöst und war mit der genau richtigen Geschwindigkeit in die Schnittstelle der Abwehr gesprintet. Das Tor sei „echt toll herausgespielt" gewesen, so Fischer: „Ich freue mich für die beiden und hoffe, dass sie auch in Zukunft zueinanderfinden."
In den Berliner Boulevardmedien wird schon vom „Traumpaar" geschrieben. Kruse kann mit solchen Superlativen nicht viel anfangen, der Ex-Nationalspieler warnte davor, die beeindruckenden Zahlen für die ganze Saison hochzurechnen. „Im Moment klappt natürlich sehr viel, das muss man auch sagen", so Kruse: „Da darf man sich dann auch nicht wundern, wenn es mal wieder in die andere Richtung geht."
„Eine dauerhafte Perspektive"
So lange Kruse und Awoniyi aber so prächtig harmonieren, wird der Hype weitergehen. „Das ist ein unglaubliches Duo", schwärmte auch Linksverteidiger Jonas Gießelmann: „Was die beiden abliefern, ist richtig, richtig gut." Kruse und Awoniyi würden sich „blind verstehen", jeder kenne „die Laufwege des anderen". Ihnen komme zugute, meinte Gießelmann, dass sie „seit über einem Jahr zusammen da vorne spielen". Doch das ist nicht ganz richtig: Kruse und Awoniyi standen zwar schon letztes Jahr gemeinsam im Kader, gemeinsam aufgelaufen sind sie aber kaum. Verletzungen des einen und des anderen haben verhindert, dass die beiden Angreifer schon damals zueinander finden konnten.
Trotzdem hatten die Verantwortlichen immer die Hoffnung, dass Kruse und Awoniyi sich gegenseitig zu Höchstleistungen bringen können. Deswegen ging Union im Sommer auch bis an die finanzielle Schmerzgrenze und überwies 6,5 Millionen Euro an den FC Liverpool für den bis dahin nur ausgeliehenen Awoniyi. Der 24-Jährige blieb aber nicht nur wegen Kruse. Er hat Union ins Herz geschlossen und wollte nach sieben (!) Leihstationen endlich ein sportliches Zuhause finden. „Ich wollte eine dauerhafte Perspektive, einen Verein, bei dem ich willkommen bin", sagte er: „Dass ich das erreicht habe, macht mich glücklich."
Man merkt Awoniyi auf dem Rasen an, dass der feste Wechsel Fesseln gelöst hat. Er wirkt noch dynamischer, noch zielstrebiger, noch entschlossener. „Er wird immer besser, kommt immer besser rein", lobte auch Kruse, der anmerkte, dass sich sein Sturmkollege aber auch schon „im letzten Jahr richtig gut entwickelt" hätte. Nur da spielte er noch nicht mit seinem kongenialen Partner zusammen. Kruse hebt Awoniyi nochmal auf ein anderes Level. „Automatismen helfen dabei", begründete Fischer, „wenn der eine weiß, wo der andere hinläuft, wie er sich bewegt." Hilfreich ist auch die optimale Position, und die scheint Fischer für Awoniyi gefunden zu haben. Bei seiner vorherigen Leih-Station, beim Ligarivalen Mainz 05, musste der Muskelprotz oft auf den Flügeln spielen, wo er seine Stärken überhaupt nicht einsetzen konnte. Nachkarten will er aber nicht. „Jeder Trainer sieht deine Qualitäten anders", sagte er: „Ich wusste, dass dies nicht die beste Position für mich ist, aber wenn du als junger Spieler die Chance hast zu spielen, musst du das annehmen."
Für Fischer ist klar, dass der 1,85 m große und 85 kg schwere Modellathlet als Stoßstürmer prädestiniert ist. Zumal Awoniyi nicht nur den Ball gut behaupten, sondern auch sauber zum Mitspieler passen kann. Zudem hat er ein feines Gespür für den richtigen Laufweg und eine überdurchschnittliche Schnelligkeit. All das sind Fähigkeiten, die ihn für andere Clubs – vor allem für die zahlungskräftigen aus England – interessant machen. Sollte Awoniyi weiter so konstant stark spielen und treffen, könnte er schon im kommenden Sommer dem Verein einen nie dagewesenen Geldregen bescheren. Aufgrund seines Alters, seines Potenzials und seiner langen Vertragslaufzeit müssten interessierte Clubs sehr tief in die Tasche greifen.
Der Markt für Kruse ist nicht mehr der größte, was jedoch einzig und allein seinem Alter geschuldet ist. Kruse feiert im März seinen 34. Geburtstag, und trotzdem ist er noch dazu fähig, im Spiel den Unterschied auszumachen. Und das nicht nur in ein oder zwei Szenen. Der frühere Bremer ist an vielen Offensivaktionen der Berliner beteiligt, was laut Fischer alles andere als Zufall ist: „Er sieht Situationen, die andere eben nicht sehen." Awoniyi meinte, sein Sturmkollege wisse „immer, was er mit dem Ball machen muss. Er versteht das Spiel." Für Gießelmann ist Kruse „in der Bundesliga immer noch einer der besten Zehner, er spielt unfassbar gute Bälle."
Und Kruse lässt sich nicht so leicht blenden. Nach dem starken Saisonstart trotz der ungewohnten Dreifachbelastung war er der einzige Unioner, der den Finger in die Wunde gelegt hatte. Gegen Gladbach hätte das Team „viel zu lange Bälle" gespielt, was ihn „ein bisschen geärgert" habe. Kruse mag es, wenn man ihn flach anspielt, gerne auch in Bedrängnis. Seine Ruhe am Ball, seine Übersicht, seine Technik – all das ist Extraklasse. Der Schuss Genialität in seinen Aktionen müsste ihn eigentlich zu einem Kandidaten für die Nationalmannschaft machen, denn der neue Bundestrainer Hansi Flick hatte betont, nicht aufs Alter zu achten und „die aktuell besten deutschen Spieler" nominieren zu wollen. Doch Kruse fehlte im Aufgebot für den Dreierpack in der WM-Qualifikation gegen Liechtenstein, Armenien und Island. Er wird auch nicht mehr für ein 15. Länderspiel zurückkehren.