Joshua Kimmich ist einer der besten deutschen Fußballer. Und einer der ungewöhnlichsten. Kürzlich schloss er bei den Bayern einen „Rentenvertrag" ab – ohne Berater übrigens. Das sorgte in der Branche für Erstaunen.
Es gab immer schon viele, die Joshua Kimmich eine große Zukunft prophezeiten. Es gab aber auch immer einige, die in seinen jungen Jahren skeptisch waren. Offenbar auch beim FC Bayern. Das berichtete zumindest Michael Reschke, damals Technischer Direktor bei den Münchnern, vor einigen Monaten in einem Sport1-Podcast. Kimmich war 2015 vom VfB Stuttgart an den Zweitligisten RB Leipzig ausgeliehen und sollte eigentlich zurück nach Stuttgart. Reschke, der Kimmich schon bei seiner vorherigen Station in Leverkusen beobachtet hatte, wollte ihn haben und ging davon aus, dass der damals 20-Jährige etwa fünf Millionen Euro kosten würde. Weil die Leipziger aber angeblich mitboten und Kimmich auch fest verpflichten wollten, habe der VfB zehn Millionen aufgerufen. Und Bayern-Boss Karl-Heinz Rummenigge empfand dies laut Reschke für zu viel für einen Spieler aus der 2. Liga. „Ich habe mich damals sehr weit aus dem Fenster gelehnt. ‚Herr Rummenigge, Sie haben Recht, das ist ein mächtiges Paket, aber für einen künftigen deutschen Nationalspieler", habe Reschke geantwortet: „Ich bin fest davon überzeugt: Wir müssen diesen Spieler für Bayern München verpflichten."
Rund fünfeinhalb Jahre später erklärte Rummenigge kürzlich, dass er am liebsten zwei Kimmichs hätte: „Aber es gibt Joshua Kimmich eben nur einmal", sagte er dem „Kicker": „Jede Mannschaft der Welt würde sich glücklich schätzen, einen Spieler wie Joshua Kimmich in ihren Reihen zu haben – sowohl im Mittelfeld als auch auf der Position des Rechtsverteidigers." Er sei „ohne jede Übertreibung weltklasse" und „ein entscheidender Faktor sowohl für den FC Bayern als auch für die deutsche Nationalmannschaft." Wenige Wochen vorher hatte Rummenigge als Gast bei Sky geschwärmt, Kimmich sei „ein ganz spezieller Bursche" und der Beweis, dass sich Fußballer auch „außerhalb des Platzes Gedanken über das Leben machen". Gepaart mit dem unbändigen Siegeswillen auf dem Feld kommt so bei Kimmich ein Charakter-Gemisch heraus, das selbst Rummenigge „auch noch nicht erlebt" habe.
Unbändiger Siegeswille
Dass er damals die zehn Millionen Euro freigab, wird der kürzlich aus dem Amt geschiedene Bayern-Boss im Rückblick als eine seiner besten Entscheidungen ansehen. Mit einer Summe von 90 Millionen Euro ist Joshua Kimmich heute laut transfermarkt.de der wertvollste deutsche Spieler. Und, da sind sich viele sicher, er wird in absehbarer Zeit sowohl in München als auch beim DFB-Team zum Kapitän aufsteigen. „Ich glaube, sagen zu können, dass Joshua irgendwann beim FC Bayern Kapitän sein wird", sagte Rummenigge: „Er ist auf dem Platz Anführer und außerhalb des Platzes einer, der kritisch, aber trotzdem auch positiv mit den Dingen umgeht. Er ist ein Mensch, den man sich irgendwann als Kapitän wünscht." Und für die Nationalmannschaft, wo der frühere Bayern-Coach Hansi Flick nun Trainer ist, fordert es Ex-Kapitän Michael Ballack sogar schon jetzt. „Kimmich ist unter Flick nun gefordert, den nächsten Schritt zu machen, als Leader des Bayern-Blocks und der Nationalmannschaft", schrieb er in einer RND-Kolumne. Der aktuelle Kapitän Manuel Neuer sei „die unumstrittene Nummer eins und ein absoluter Ausnahmespieler. Dennoch ist es für Flick vielleicht eine Option, auf der Position des Kapitäns etwas zu verändern, auch um neue Reize zu setzen." Jürgen Klinsmann habe damals ihn statt den Torhüter und heutigen Rummenigge-Nachfolger Oliver Kahn ernannt, weil er einen Feldspieler wollte: „Das kann immer eine Variante sein und könnte auch Kimmich dabei helfen, sich als Persönlichkeit noch stärker zu entwickeln."
Kurzum: Es hat sich auch abseits der 16 Titel viel entwickelt in diesen sechs Jahren, seit der Schwabe Kimmich beim FC Bayern ankam. Diejenigen, die an ihm zweifelten, waren sich nicht sicher, ob er bei aller Komplettheit nicht von zu vielem ein bisschen zu wenig hat. Ein bisschen zu wenig Körpergröße und Robustheit, ein bisschen zu wenig Torgefahr, ein bisschen zu wenig Tempo. Augenscheinlich waren seine Technik, sein Fleiß und Ehrgeiz, sein Gespür für das Spiel, seine Übersicht. Und so richtig wusste man nicht, was man mit seiner Forschheit anfangen sollte. Nach seinem Wechsel zu den Bayern sagte er zum Beispiel. „Natürlich muss ich noch lernen. Allerdings wechsele ich nicht, wenn ich mir nicht sicher bin, dass ich im neuen Verein keine Rolle spiele. So etwas macht ja keinen Sinn. Die Bayern können jeden Sechser der Welt kaufen. Wenn sie mich haben wollen, dann werden sie sich schon etwas dabei gedacht haben." War das zu viel des Guten? Selbstüberschätzung? Übertriebener Ehrgeiz? Oder genau das Holz, aus dem Führungsspieler gemacht sind?
Heute ist sicher: Es ist mindestens überwiegend Letzteres. „Er ist schon ein bisschen forsch. Aber er ist keiner, der nur eine große Klappe hat und nicht liefert", sagte Bayern-Ehrenpräsident Uli Hoeneß: „Er setzt sich mit seinen Aussagen ja auch selbst unter Druck. Aber er füllt es zu allergrößten Teilen auch mit Leben." Rummenigge bestätigte, dass man sogar mal versucht habe, Kimmich einzufangen, „Es hat Gespräche gegeben, weniger Gas in diese Richtung zu geben", verriet er: „Wann immer wir ein kritisches Thema haben, hat er den Finger in die Wunde gelegt."
Mit Goretzka im Kampf gegen Corona
Doch ist es in Zeiten der angepassten Profis und vorgeschriebenen und auswendig gelernten Plattitüden eine oft wohltuende Ausnahme, Joshua Kimmich zuzuhören. Nach dem Abschied von Flick im Sommer sagte er öffentlich: „Wir hatten sehr viele Trainer in den vergangenen sechs Jahren. Das sollte aber eigentlich nicht das Ziel von Bayern München sein." Er hoffe, dass die Trainer-Situation mit Julian Nagelsmann „nun ein bisschen langfristiger angelegt" sei. Nach Pfiffen gegen Mitspieler Leroy Sané kritisierte er kürzlich die Fans: „Das ist nicht nur unglücklich, sondern auch frech und bitter. Es sind nicht alle Fans, aber es ist nicht gerechtfertigt." Laut Sportvorstand Hasan Salihamidzic sitzt Kimmich „jeden Tag in meinem Büro".
Hoeneß glaubt angesichts dieser Meinungsklarheit, dass Kimmich sicher auch nach der Karriere als Profi seinen Weg im Fußball machen wird. Manch einem gefällt seine Art aber auch nicht. „Er glaubt, permanent den Finger in irgendeine Wunde legen zu müssen – was ich schwierig finde", sagte Ex-Nationalspieler Mehmet Scholl: „Dafür ist er einfach noch nicht gestanden genug. Irgendwie war das alles ein bisschen viel für mich. Und dann hab ich mir überlegt: Er ist die Greta Thunberg des deutschen Fußballs."
In jedem Fall macht sich Kimmich auch Gedanken über das Leben abseits des Spielfeldes. Auch das unterscheidet ihn von einigen Kollegen. Mit Kollege Leon Goretzka gründete er die Hilfsaktion „We kick Corona", die beiden schossen zum Start eine Million zu und erhielten für das Projekt zahlreiche Auszeichnungen.
Für Aufsehen sorgte Kimmich auch, als er seinen neuen Vertrag mit dem FC Bayern bis 2025 ausdrücklich ohne Berater verlängerte. Er soll lediglich einen Fachanwalt über den fertig ausgehandelten Vertrag schauen gelassen haben. „Es war mir wichtig, dass ich selbst die Verantwortung für meine Entscheidungen übernehme", sagte Kimmich: „Bei meiner letzten Verlängerung 2018 hatte ich kein perfektes Gefühl, wie das alles ablief." Kimmich wollte aus seinem Handeln keine Allgemeingültigkeit ableiten. Dafür, dass Kollegen ihre Verträge nur von Beratern aushandeln lassen, hat er aber kein Verständnis: „Es ist schwierig zu sagen, jeder sollte das so machen", sagte er: „Ich kann aber jedem Spieler empfehlen, bei den Gesprächen dabei zu sein."
Die Gegenseite war beeindruckt. „Ich habe das alles sehr positiv erlebt", sagte Kahn: „Joshua war sehr konsequent, hat genau gewusst, was er will und auf was er Wert legt." Und Nagelsmann erklärte: „Es ist schön, dass er das alleine gemacht hat. Bei einem Vereinswechsel ist das noch mal etwas schwieriger, Nichtsdestotrotz ist er ein unheimlich intelligenter Mann."
In allererster Linie bleibt Kimmich aber eben Fußballer. Und vor allem über den Fußballer Kimmich schwärmen sie in München. „Er hört einfach nicht auf, besser zu werden", sagte Salihamidzic: „Er wird hier Geschichte schreiben."