Vor zehn Jahren wollte die frühere Landwirtschaftsministerin Renate Künast Regierende Bürgermeisterin von Berlin werden. Sie hat es nicht geschafft. Diesmal will es Bettina Jarasch wissen – sie baut auf die Zustimmungswerte, welche die Grünen als Partei des Klimaschutzes verbuchen können.
Nicht nur Franziska Giffey will als erste Frau Berlin regieren, auch die 52-jährige Bettina Jarasch will als erste Grünen-Frau die deutsche Hauptstadt erobern. Doch anders als Giffey ist Jarasch ein unbeschriebenes Blatt in der Hauptstadt. Nur 20 Prozent der Berliner können laut einer Infratest-Umfrage mit ihrem Namen etwas anfangen. Die frühere Bezirksbürgermeisterin und ehemalige Familienministerin Giffey kommt dagegen auf einen Bekanntheitsgrad von 80 Prozent.
Für Bettina Jarasch ist das kein Problem: „Bekanntheit alleine macht es auch nicht", erklärt sie locker beim Besuch des Mellowparks im Berliner Stadtteil Köpenick. Dort erkundigt sie sich an diesem Samstagnachmittag nach den Sorgen der Parkbetreiber. Der Mellowpark bietet auf 60.000 Quadratmetern zahlreiche Sportmöglichkeiten. Phänomenal ist das Angebot an Skatebahnen. Nun soll wegen einer Straßenbaumaßnahme ein Teil der Fläche für die Baustelleneinrichtung genutzt werden. Die Parkbetreiber aber haben andere Pläne. Jarasch verspricht, sich beim Bezirk um eine Lösung zu kümmern.
Gut zwei Stunden nimmt sich die grüne Spitzenkandidatin Zeit, um mit den Betroffenen im Mellowpark zu reden. Im dunkelblauen Jeans-Hosenanzug sitzt sie lässig mit hochgezogenem Bein auf einer Holzbank unter einer alten Kastanie und fordert die Anwesenden auf, gleich zum Punkt zu kommen: „Ich höre zu." Für den Straßenbau äußert sie Verständnis: „Als Grüne baue ich nicht gern Straßen." Aber am Stadtrand gebe es keine Alternativen.
Jaraschs Wahl zur Spitzenkandidatin war für viele eine Überraschung. Denn eigentlich hatte man mit Wirtschaftssenatorin Ramona Pop oder mit Fraktionschefin Antje Kapek gerechnet. Doch die beiden stehen für ganz unterschiedliche Parteiströmungen: Pop für den realpolitischen Kurs, Kapek für das linke Lager. Die Partei fürchtete die Spaltung, weshalb Jarasch als lachende Dritte mit 96,6 Prozent nominiert wurde.
Jarasch stammt aus Augsburg und kam zum Studieren nach Berlin: Philosophie und Politikwissenschaften. Erst mit 32 Jahren ging sie in die Politik und wurde Referentin der Grünen-Bundestagsfraktion. 2005 machte Künast sie zur Vorstandsreferentin.
Nachdem Jarasch 2011 zur Berliner Landesvorsitzenden gewählt worden war, musste sie als Erstes mit ihrer Partei das enttäuschende Wahlergebnis verarbeiten. Zwar hatten die Grünen ihr bis dahin bestes Ergebnis in Berlin erzielt. Doch für das Amt des Regierenden Bürgermeisters reichte es dann doch nicht.
Nun könnte sich die Geschichte wiederholen. Einmal mehr könnte die Ökopartei zwar die Umfragen gewinnen, die Wahl selbst aber verlieren. Noch im April lag die Partei mit 27 Prozent auf dem ersten Platz. Dieser Tage rutschte sie laut einer Insa-Umfrage mit nur noch 18 Prozent auf den zweiten Platz hinter der SPD (22 Prozent).
„Ich werde das Autofahren nicht verbieten – aber Alternativen schaffen"
Doch Jarasch ist optimistisch. Sie sieht die Voraussetzungen für einen Wahlsieg wesentlich günstiger als vor zehn Jahren: „Damals waren die Zustimmungswerte sehr hoch. Aber sie waren einem einmaligen Ereignis geschuldet: Fukushima. Diesmal ist da was rangewachsen über die letzten zwei, drei Jahre. Die extremen Wetterlagen weltweit haben uns noch mal drastisch gezeigt, wie weit der Klimawandel bereits vorangeschritten ist. Unsere aktuellen Umfragewerte in Berlin und im Bund haben damit zu tun, dass das Bewusstsein für die Notwendigkeit des Klimaschutzes gewachsen ist. Dank der vielen Regierungsbeteiligungen zweifelt niemand mehr daran, dass wir regieren können."
Ein besonders heikles Problem in der Mieterstadt Berlin ist das unzureichende Angebot an Wohnungen und die steigenden Mieten, zumal der Mietendeckel am Bundesverfassungsgericht gescheitert ist. „Neu bauen allein reicht nicht. Das ist totale Augenwischerei", macht Jarasch ihren Standpunkt deutlich. Deshalb hat sie einen Pakt mit den Vermietern angeregt. Die sollen fünf Jahre auf Erhöhungen verzichten, stattdessen sanieren und neu bauen und dafür im Gegenzug Privilegien wie etwa ein Erbbaurecht auf landeseigenen Flächen erhalten. Zum Problem werden könnte die Bürgerinitiative mit der Forderung nach Enteignung von Wohnungsbaukonzernen. Jarasch zieht sich hier dialektisch aus dem Spiel. Sie hat angekündigt, der Initiative zuzustimmen. In ihrem Wahlprogramm aber relativiert sie, Vergesellschaftung sei das letzte Mittel. Eine Koalition mit der SPD wird dadurch nicht einfacher, denn gerade hat Giffey hier eine rote Linie gezogen. Auch im bürgerlichen Lager dürfte Jarasch damit kaum Stimmen holen.
Nicht zuletzt die Autofahrer müssen sich auf Veränderungen einstellen. „Ich werde niemandem das Autofahren verbieten – ganz klar. Ich möchte Alternativen schaffen. Vor allem möchte ich, dass am Stadtrand das Umsteigen möglich ist, dass also Leute auf ein eigenes Auto verzichten können. Innerhalb des S-Bahn-Ringes geht das heute schon ganz gut. Aber ab 2030 wollen wir keine Verbrenner mehr in der Innenstadt. Das sagen wir bewusst heute schon, damit die Menschen sich darauf einstellen können. Wer dann noch ein Auto braucht, soll bitte mit dem Elektroauto fahren."
In ihrem Wahlkampf setzt Jarasch vor allem auf Begegnungen mit Vertretern von Einrichtungen und Organisationen. Sie ist oft vor Ort. Freizeit bleibt da nicht mehr viel. Und wenn doch, dann liest sie – „aber keine Politiker-Bücher." Derzeit ist sie fasziniert von Emily Brontés „Sturmhöhe", das ihr Mann ihr geschenkt hat. Ansonsten entspannt sie bei Netflix-Serien: „‚Bridgerton‘ habe ich schon durch." Jetzt sei „Outlander" dran.
Im Mellowpark ist Parkchef Jens Werner sehr zufrieden. „Sie ist menschlich total sympathisch und hört zu. Es ging ihr nicht um Selbstdarstellung. Und sie hat die Jugendlichen beteiligt." Aber wirklich beurteilen könne man das Ganze erst in ein paar Wochen, wenn die versprochene Unterstützung dann auch tatsächlich zustande komme, schränkt er seine Begeisterung dann doch noch bisschen ein.