Mit ruhiger Hand lässt er die Dinge auf sich zukommen. Im Unterschied zu seinen Konkurrenten lässt er für Zweifel keinen Raum und kämpft ohne ein Team. Olaf Scholz hat seine Rolle gefunden: Er wirkt wie der Amtsinhaber.
Viel hatten sich die meisten nicht von ihm versprochen. Er sollte der SPD helfen, das Gesicht zu wahren und sie vor einem weiteren Absturz retten. So kam es auch. Zunächst. Als Olaf Scholz im Mai 2021 von der SPD zum Kanzlerkandidaten gekürt wurde, zitterte der Pegel nur ein wenig. Die Umfragewerte stiegen von 15 auf 16 Prozent. Dann kam lange nichts. Die Republik erging sich in Spekulationen, wer in einer schwarz-grünen Koalition welches Ministeramt bekommen würde. Söder gab sich klimafreundlich und naturverliebt. Auf die SPD achtete keiner, sie schien weiter im Unter-20-Prozent-Ghetto gefangen zu sein.
Dann stolperte Armin Laschet auf die Bühne und Annalena Baerbock verhedderte sich in ihrem schlecht vorbereiteten Lebenslauf und kam aus dem Entschuldigen für ihre Plagiate nicht mehr heraus. Es geschah das Unglaubliche: Olaf Scholz zog mit seinen Umfragewerten an allen anderen vorbei, kam erst auf 20, Anfang September dann auf 25 Prozent. Die Situation hatte sich vollkommen gedreht. Keiner redete mehr von einem schwarz-grünen Bündnis. Die Frage ist nur noch: Wird Scholz so viele Stimmen holen, dass die SPD als stärkste Partei den Kanzler stellen wird?
Muss die Rasanz, mit der sich alles veränderte, was scheinbar gewiss war bei dieser Bundestagswahl, nicht eigentlich nachdenklich stimmen? Zwei verlorene Landtagswahlen haben 2017 den Schulz-Zug, mit dem die SPD ihren Kanzlerkandidaten schon mit über 30 Prozent Zustimmung ins Kanzleramt einfahren sahen, jäh gestoppt. Bis zur Bundestagswahl sind es zwar nur noch zehn Tage. Aber was ist, wenn Laschets Rückstand auf einmal die Treuen unter den Unionswählern mobilisiert, und sie aus Mitleid für ihre CDU oder CSU stimmen?
Es wäre unfair, den Erfolg von Olaf Scholz nur durch den Misserfolg seiner Konkurrenten erklären zu wollen. Sicherlich hat er in der Dreierkonstellation durch seine stoische Art bei den Triells am meisten punkten können – er redet ruhig, verzichtet auf Attacken, bleibt sachlich und holt gelegentlich weit aus, um eine Antwort zu geben. Für die Fragen nach Afghanistan hat er sich eine knappe Geschichte zurechtgelegt, die mit seiner persönlichen Reaktion auf den Einmarsch vor 20 Jahren beginnt und der Hilfe für die Flüchtlinge endet. Dabei erinnert er am meisten an seine Zeit als „Scholzomat" – eine Bezeichnung, die von dem Zeit-Journalisten Jan Roß geprägt wurde und über die sich Scholz nie beschwert hat.
Manchmal kommt der „Scholzomat" noch durch
Das Verblüffende an dieser Art, auf die Leute zuzugehen: Sie erinnert an Merkel. Scholz ist ihr eigentlicher Nachfolger, zumindest was sein Auftreten im Wahlkampf betrifft. In der Wahlarena bei der ARD brauchte er nur ein Stilmittel: verständnisvoll, aber unverbindlich. Sogar das Kanzlerhafte „Sie kennen mich ja" würde ihm nach sechs Jahren an Merkels Seite (2007- 2009 und 2018 bis 2021) keiner übelnehmen. Doppelt zählen dabei die zwei Jahre durch die Corona-Krise, in denen er sein Image als Sparminister nicht verlor, obwohl er das Geld mit der Bazooka nur so raus haute: Schon das erste im März 2020 im Bundesfinanzministerium ausgearbeitete Hilfspaket sah unter anderem 3,5 Milliarden Euro für Akutmaßnahmen vor, darunter die Entwicklung eines Impfstoffes, 50 Milliarden Euro für Kleinunternehmer und Solo-Selbständige und 100 Milliarden Euro für einen Wirtschaftsstabilisierungsfonds.
So kommt es, dass diese Bundestagswahl, die zum ersten Mal nicht gegen einen Amtsinhaber oder -inhaberin bestritten wird, nun doch einen solchen hat, wie die Frankfurter Rundschau schreibt. „Denn Olaf Scholz wirkt nicht mehr wie ein Bewerber, sondern längst wie ein Amtsinhaber. Anders gesagt: Er hat es geschafft, der CDU den Amtsbonus abzuluchsen."
Die Kehrseite der Medaille: Wer Olaf Scholz wählt, wählt auch Saskia Esken, Norbert Walter-Borjans und Kevin Kühnert. Noch hält die SPD irgendwie gebannt vor Glück fest zusammen. Saskia Esken spricht von „Gelassenheit und Geschlossenheit". Die Partei sieht keinen Grund, ein „Team" zu benennen, sozusagen ein Schattenkabinett. Das habe, so Norbert Walter-Borjans „in der gegenwärtigen Phase des Wahlkampfes nichts zu suchen". Der Kanzler bestimme die Richtlinien der Politik, und die Parteien wirkten an der politischen Willensbildung mit, so stehe es im Grundgesetz. Alles andere finde sich später. Tatsächlich wirkte es vielleicht nicht besonders wählerwirksam, träte Scholz mit Kevin Kühnert oder mit Saskia Esken auf. Der einzige, der als gesetzt gilt, ist Scholz‘ Staatssekretär im Finanzministerium Wolfgang Schmidt: Er würde das Kanzleramt übernehmen. Ansonsten tritt Scholz wie auf den auffällig roten Plakaten immer solo auf.
Dieses Rot muss der CDU ins Auge gestochen haben, denn nun zögerte sie nicht lange und griff zu einem vielfach benutzten Wahlkampfinstrument: der Rote-Socken-Kampagne, erstmals von Generalsekretär Peter Hintze 1994 gegen die „drohende Linksfront" in Sachsen-Anhalt benutzt. Das hat Hintze nichts genutzt: Heute regiert die Linke in Thüringen, Bremen und Berlin mit.
Die Spin-Docs der CDU wissen genau, dass sie Scholz da an einem empfindlichen Punkt erwischen, wenn er immer wieder gefragt wird, wie er es mit der Linken hält. Denn auf einem Parteitag vom November 2013 wurde damals unter dem Vorsitz von Sigmar Gabriel ein Beschluss gefasst, der niemals revidiert wurde. Wörtlich heißt es da: „Für die Zukunft schließen wir keine Koalition (mit Ausnahme von rechtspopulistischen oder -extremen Parteien) grundsätzlich aus." Allerdings müssten drei Voraussetzungen für künftige Koalitionsbildungen erfüllt sein: „Es muss eine stabile und verlässliche parlamentarische Mehrheit vorhanden sein. Es muss einen verbindlichen und finanzierbaren Koalitionsvertrag geben, der mit sozialdemokratischen Wertvorstellungen vereinbar ist und eine höchstmögliche Realisierung unserer Leitziele ermöglicht. Es muss eine verantwortungsvolle Europa- und Außenpolitik im Rahmen unserer internationalen Verpflichtungen gewährleistet sein."
Und was tut Scholz? Zwar kritisiert er die Linke für deren Haltung zum Bundeswehr-Rettungseinsatz in Afghanistan heftig. Die Ablehnung der Mission im Bundestag durch die Partei Die Linke sei schlimm gewesen, sagte Scholz dem „Tagesspiegel". Aber er sagt nichts rundheraus ab. Und die Linke – vor allem Dietmar Bartsch – tut alles, um die heiklen Punkte zu umschiffen. Die Nato, die transatlantische Partnerschaft kommen so gut wie gar nicht mehr vor.
Und da ist ja noch die Geheimwaffe Gregor Gysi, er hat in einer Antwort auf eine Frage des Autors, warum er mit 73 noch kandidiere, in Abgeordnetenwatch geschrieben: „Eigentlich wollte ich für die nächste Legislaturperiode nicht mehr antreten. Es wird aber damit gerechnet, dass es möglicherweise Sondierungen und Koalitionsgespräche mit SPD und Grünen gibt. Hier soll ich entscheidend dazu beitragen, in der Außen- und Militärpolitik Kompromisse zu finden, mit denen die Wählerinnen und Wähler der Linken gut leben können."
Noch ist nichts entschieden: Auch die FDP käme ja – zumindest für Scholz – als Mehrheitsbeschafferin in Frage. Aber eine deutlich sozialere Politik wäre mit ihr nicht zu machen – und die strebt mehr als die Hälfte der SPD-Mitglieder an: Sie haben damals für das Führungsduo Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans (und nicht für Klara Geywitz und Olaf Scholz) gestimmt. Koalitionsverhandlungen wurden noch nie von einzelnen Personen geführt, sondern immer von Parteien. Und dann dürfte Scholz mit seinem Solo am Ende sein.