Nach langem, gemütlichem Anlauf knistert es nun im Wahl-Countdown. In Umfragen hat sich so viel bewegt wie selten zuvor. Die Nervosität steigt, die Schlussphase spitzt sich zu. Das Rennen ist offen und spannend bis zur letzten Minute.
Die Klagelieder vom Wahlkampf, der eigentlich gar nicht stattfindet, sind inzwischen verstummt. Auf den letzten Metern ist doch noch richtig Drive aufgekommen. Aber weniger, weil inhaltliche Themen die Gemüter bewegen. Nervositäten sind mit Händen greifbar, seitdem Umfragen das lustlose Sommerloch beendet und einen hitzigen Frühherbst eingeläutet haben. Ein politischer Wechsel ist keine rein theoretische Vorstellung mehr. Mit der Ära Merkel geht auch die Zeit der unionsgeführten Großen Koalitionen zu Ende. Mit dieser Feststellung ist eigentlich auch schon alles beschrieben, wovon man am 26. September mit Sicherheit ausgehen kann. Alles andere bleibt bis zuletzt offen und damit spannend.
Selbst in vielen Wahlkämpfen erprobte und erfahrene Politprofis finden keinen Vergleich zu früheren Wahlen. Das hat einerseits natürlich mit den äußeren Rahmenbedingungen wie der Pandemie zu tun, aber auch damit, dass zum ersten Mal ein Wechsel im Kanzleramt vor der Wahl feststeht – schlicht, weil sich die Amtsinhaberin zurückzieht.
Als im Mai eine Befragung im Auftrag der Bertelsmann Stiftung konstatierte, eine „allgemeine politische Wechselstimmung" sei „auf einem Rekordniveau", reichte die Reaktion oft nur zu einem verhaltenen Lächeln. Umfragen zeigten – übrigens im Wesentlichen über die ganze Pandemiezeit – ein erstaunlich konstantes Bild, die Zustimmungskorridore schienen wie festgemauert. Entscheidend schien damals allenfalls, ob die nächste Regierungskoalition schwarz-grün oder grün-schwarz daherkommen würde.
Nun ließe sich trefflich streiten, ob die Entwicklung seither sichtbares Zeichen einer „Wechselstimmung" ist, oder ob es, fast im Gegenteil, der Wunsch nach verlässlicher Kontinuität im unvermeidlichen Wandel ist, getreu einem alten Wahlkampfmotto: Nicht alles anders, aber vieles besser machen. Damit hatte Gerhard Schröder einst geworben und die Wahl für die SPD gewonnen.
Eineinhalb Jahre Pandemie, ein gewaltiger Schuldenberg, dazu die Gewissheit, vor grundlegenden – und nicht mehr vermeidbaren – Veränderungen zu stehen, prägen die gesellschaftliche Grundbefindlichkeit vor dieser Wahl. Der gesellschaftliche Diskurs ist auch durch die neuen Medien teilweise extrem geworden, gleichzeitig scheint es ein ausgeprägtes Bedürfnis zu geben nach so etwas wie einer Beruhigung, Versachlichung, ein bisschen Normalität.
Ausgerechnet in dieser Lage steht die „Sie-kennen-mich-Kanzlerin" nicht mehr zur Verfügung. In ihrer Partei wird deutlich, welche Leerstellen das hinterlässt. Die Umfragetalfahrt erklären manche unter anderem mit später Kandidatenentscheidung, was unterschlägt, dass die Partei schon ein Jahr zuvor mit Annegret Kramp-Karrenbauer nicht nur die Merkel-Nachfolgerin im Parteiamt verschlissen hat, sondern auch eine von AKK bereits als Generalsekretärin begonnene Neuaufstellung der Partei jäh zurückgeworfen wurde. Vertrauen lässt sich so kaum erhalten. Die SPD hat dafür die negativen Blaupausen geliefert. Und daraus in einem mühsamen und langen Prozess voller Irrungen jetzt womöglich einen neuen Weg gefunden.
Mehr offener Streit, wenig neue Inhalte
Den Grünen-Hype der neuen führenden Volkspartei mit Umfragewerten vor der Union hatten selbst führende Parteigranden wohlwollend für eine Momentaufnahme, realistischerweise für überzogen, gehalten. Man kann Umfragewerte unter 20 Prozent dann für eine „Entzauberung der Grünen" halten, es war aber auch eine Entzauberung der Umfragen. Dass die Grünen erstmals eine Kanzlerkandidatin aufgestellt haben, ist folgerichtig, aber eben auch verbunden mit dem entsprechenden Lehrgeld, das sie in den letzten Monaten zahlen mussten. Die relative Stärke der FDP mag mit der Schwäche der Union korrespondieren. Trotz aller Umfragen: Eine Woche vor der Wahl ist noch nichts entschieden.
Wähler sind wählerischer geworden. Die klassische Parteienbindung löst sich immer mehr auf, Wähler orientieren sich eher an Themen, die ihnen besonders wichtig sind. Korrekter wäre wohl: an Kombinationen von ihnen wichtigen Themen. Klimaschutz ist durch die Bank wichtig, die Frage aber ist, wie die Ziele erreicht werden sollen. Andere Sorgen der Menschen – wie beispielsweise Wohnen und Altersversorgung – spielen im Wahlkampf zwar keine zentrale Rolle, dürften sich bei Wahlentscheidungen aber trotzdem mit auswirken. Soziale Fragen stehen im Ranking bei Umfragen ganz oben. Zuletzt hat die meisten Wahlkämpfer überrascht, wie ausgeprägt die Sorge der Menschen über die Frage ist, wer das alles bezahlt, was die Pandemie gekostet hat oder Klimaschutz und Transformation noch kosten werden. Ausdruck findet das in den Kompetenzwerten, die Parteien zugeschrieben werden. Und auch dort zeigt sich, wie sehr Einschätzungen in Bewegung geraten sind.
Viele Themen bislang unterrepräsentiert
Eine spannende Frage ist auch, was die „Generation Merkel" macht, die Menschen, die bislang nur Angela Merkel als Regierungschefin erlebt haben. Diese „Generation Z" (zwischen 1995 und 2010 geboren) wird zwar soziologisch intensiv betrachtet, ist aber trotzdem nur schwer greifbar. „Spaß, Sinn und Sicherheit" sollen in etwa gemeinsame Orientierungen beschreiben, also eher eine Tendenz zu einer gewissen Ernsthaftigkeit in der Zukunftsorientierung. Fridays for Future ist eine Ausdrucksform, bei der aber auch klar wird, dass sie weder einseitig noch automatisch nur in Richtung einer Partei geht. Ohnehin ist das Interesse an Partei-Politik überschaubar, was allerdings kein überraschend neues Phänomen ist.
Entscheiden also die Alten? Statistisch ist das so. Bei der letzten Bundestagswahl war die Gruppe der Menschen über 60 erstmals die größte Wählergruppe. Bei der Europawahl vor zwei Jahren holte die CDU bei Menschen Ü60 knapp 40 Prozent ihrer Stimmen. Beim hohen Anteil noch Unentschlossener ist das also ein Bereich zur Mobilisierung in der Aufholjagd. Offen ist auch, wie sehr sich die unklaren Koalitionsoptionen auswirken. Die Union versucht die Zuspitzung zu einer Richtungswahl. Ob das auf den letzten Metern verfängt, wird sich wohl erst am Wahlabend zeigen. Die SPD ist getragen von der Entwicklung der Umfragen und kann neben der eigenen Mobilisierung auch auf Stimmen hoffen von denen, die gerne auf der Siegerseite stehen würden. Dafür spricht auch die anfangs zitierte latente „Wechselstimmung". Die CDU muss auf Mobilisierung des eigenen Potenzials setzen und könnte dabei auf ähnliche Probleme stoßen, mit denen die SPD in der Vergangenheit ihre leidvollen Erfahrungen gemacht hat. Die Grünen waren bei den letzten Umfragen sicher leicht unter ihrem Potenzial. Wieviel Aussagekraft Umfragen vor einer Wahl haben, ist angesichts der Diskrepanzen zu wirklichen Wahlergebnissen in der Vergangenheit intensiv diskutiert worden.
Am Ende geht es ums Kanzleramt. Die SPD hat von vornherein alles auf Olaf Scholz gesetzt, den die Konkurrenz der Erbschleicherei um Merkels Erbe bezichtigt. Die spätentschlossene Union muss hinter Armin Laschet stehen, der trotz Verstärkung mit einem Zukunftsteam das Image als Sorgenkind nicht so recht abzuschütteln wusste. Annalena Baerbock hat sich zuletzt zurückgekämpft. Laschet setzt nun, gedrängt von Markus Söder, auf Angriff. Die bayrische Schwesterpartei CSU selbst dümpelt in für sie ungewohnt niedrigen Umfragegewässern umher und weiß, dass ihr nichts anders übrigbleibt, als den ungeliebten Kandidaten zu unterstützen. Die Zeit der höflichen Debatten ist zu Ende. Allerdings wirkt Laschets Kampfeslust beim zweiten Triell verbiestert. Scholz ist bemüht, sich weiter als ruhiger Staatsmann zu präsentieren. Im persönlichen Ansehen haben ihm die jüngsten Angriffe nicht geschadet, eine Direktwahl würde er klar gewinnen. Annalena Baerbock hat sich als lachende Dritte im Männerstreit Sympathiewerte erkämpft. Die große Wende hat das Triell nicht gebracht, aber eben auch noch keine klare Vorentscheidung.
Klar ist nur: Es wird ein spannender Wahlabend.