Mit den Entwicklungen in Afghanistan kommen auch andere fast vergessene Konfliktsituationen wieder in den Blick. Auch die deutsche Außenpolitik ist in Erklärungsnot, denn: Assad ist Realität in Syrien.
In der deutschen Außenpolitik tickt nach dem Afghanistan-Debakel eine Zeitbombe mit erheblicher Sprengkraft auch für die Innenpolitik. Wer jetzt durch diplomatische Geschmeidigkeit größeren Flüchtlingsbewegungen aus Afghanistan nach Europa vorbeugen will, der wird nicht umhinkommen, auch die Frage des Verhältnisses zu Syrien neu in den Blick zu nehmen – immerhin sind seit dem Ausbruch des dortigen Bürgerkriegs vor zehn Jahren mehr als 800.000 Menschen nach Deutschland gekommen.
„Die Taliban sind jetzt Realität in Afghanistan" – es drängt sich geradezu auf, diesen Satz von Bundeskanzlerin Angela Merkel auch auf den syrischen Präsidenten Assad und seine Entourage anzuwenden. Die Einsicht käme zwar spät, und in Wahlkampfzeiten gibt niemand gern lange verschleppte Fehleinschätzungen zu, aber sie ist nach den Bemühungen um Schadensbegrenzung in Afghanistan überfällig.
Schon wird den Taliban Entwicklungshilfe in Aussicht gestellt, um von Verfolgung bedrohten Menschen die Ausreise zu erkaufen, gleichzeitig einer Fluchtwelle vorzubeugen und die Lebensperspektiven der im Land bleibenden Bevölkerung zu verbessern. Sogar eine Wiedereröffnung der Botschaft in Kabul ist schon im Gespräch. Als Argument heißt es dann, diplomatische Beziehungen unterhalte man schließlich mit Staaten und nicht mit Regierungen. Deshalb ist beispielsweise auch die deutsche Botschaft in Nordkorea nicht dauerhaft und aus grundsätzlichen Erwägungen, sondern nur derzeit wegen eines Streits über die Bewegungsfreiheit von Diplomaten in Corona-Zeiten geschlossen.
Anders in Damaskus: Hier befürchtet die Bundesregierung seit Jahr und Tag, mit einer Wiedereröffnung der Botschaft wäre ein „politisches Signal einer Normalisierung der bilateralen Beziehungen" verbunden (so Staatsminister Michael Roth im April 2016 in einer Antwort auf eine Anfrage im Bundestag). Stattdessen hat sie 2012 eine Koalition von Revolutions- und Oppositionskräften als legitime Vertretung des syrischen Volkes anerkannt. Dieses Gremium hat sich jedoch als politisch impotent und die Hoffnung auf einen Regimewechsel als Illusion erwiesen. Dennoch fehlt in Berlin bislang die Kraft, den Realitäten in dem geschundenen Land in die Augen zu sehen.
In Wahrheit sitzt das Assad-Regime im größten Teil des fragmentierten Staates fest im Sattel. Und das, obwohl Welt- und Regionalmächte das Land an allen Ecken und Enden sozusagen angeknabbert haben: Die Türkei hält völkerrechtswidrig Gebiete im Norden und Nordwesten besetzt und forcierte dort offenbar auch den Austausch von Bevölkerungsgruppen. Auch die USA sind weiter mit einem Militärstützpunkt an der irakischen Grenze präsent und unterstützen die arabisch-kurdische Koalition im ölreichen Osten. Israel hatte schon 1981 die Golanhöhen annektiert, und der IS ist immer noch in kleineren Wüstengebieten präsent.
Realität ist es aber auch, dass Russland und zudem China inzwischen mehr Einfluss auf das im Grunde säkulare Regime in Damaskus ausüben als der Westen. Es ist fast schon ein Witz, dass der Kauf eines Flugtickets der syrischen Fluggesellschaft hierzulande sogar als Straftat eingestuft wird. Inzwischen erkennen aber immer mehr Staaten, dass es höchste Zeit für eine Wiederaufnahme der diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen ist. Vor allem die Golfstaaten, aber auch einige europäische Länder, sind sich darüber klar geworden, dass man so eigene Interessen, etwa Damaskus wieder stärker aus dem Einflussbereich der iranischen Mullahs zu lösen und den auch von Israel so gefürchteten Landkorridor für Waffen und Kämpfer von Teheran bis in den Libanon zu unterbrechen, besser verfolgen kann als durch Realitätsverweigerung.
An Luftschlösser klammern geht nicht
Für Deutschland wäre eine, wenn auch kühle, Wiederannäherung besonders relevant. Immer mehr Menschen können es nicht mehr verstehen, dass wir trotz einer vor Ort verglichen mit Afghanistan besseren Situation etwa für Frauen, Minderheiten und Bildungsbeflissenen ausnahmslos alle syrischen Migranten aufnehmen und dabei sogar wegsehen, wenn nicht wenige nachgezogene Familienmitglieder Urlaubsreisen in ihr Heimatland unternehmen.
Um nicht missverstanden zu werden: Natürlich herrscht in Damaskus ein autoritäres, korruptionsanfälliges und gewaltbereites Regime. Es muss sich zudem muslimischer Terroristen erwehren, vor denen auch das Auswärtige Amt warnt. Dennoch: Wenn wir Kapazitäten und Ressourcen für Verfolgte aufrechterhalten wollen, egal ob aus Afghanistan, Syrien, Myanmar, Belarus oder sonstwo, werden wir um eine auch wirtschaftliche Stabilisierung Syriens nicht herumkommen. Der erste Schritt wäre dabei die Wiederherstellung von diplomatischen Beziehungen und das Ausloten, mit welchen Mitteln und zu welchem Preis man wieder Einfluss auf das Geschehen gewinnen könnte. Einfach weggucken oder sich an Luftschlösser zu klammern, wird nach dem Debakel in Afghanistan nicht mehr lange gehen.
Sicher: Wahlkampf ist für eine Kurskorrektur (und damit das Eingestehen eines Scheiterns) eine schwierige Zeit. Andererseits sollte Deutschland nicht immer das Schlusslicht bilden, sondern rechtzeitig auf den längst fahrenden Zug aufspringen, nicht zuletzt, um global humanitäre und zugleich seine eigenen Interessen in realistischen Einklang zu bringen und damit möglichst unter beiden Aspekten möglichst viel zu erreichen.