Im Autodrom des ehemaligen Olympia-Parks in Sotschi wird am Sonntag zum achten Mal der GP Russland ausgefahren. Und siebenmal war ein Mercedes-Pilot der Sieger. Die dunkelblauen „Bullen"-Boliden wollen endlich ihr (hell)blaues Wunder erleben.
Nach dem aufregenden und teilweise skurrilen Triple-Header mit den Rennen an drei aufeinanderfolgenden Wochenenden in Spa/Belgien, Zandvoort/Niederlande und dem Mega-Crash der beiden Titel-Kampfhähne Hamilton und Verstappen in Monza/Italien hatte der Formel-1-Zirkus ein freies Wochenende. Am Sonntag gehen die Piloten beim 15. Saisonlauf beim GP Russland wieder ihrer Arbeit nach. In Sotschi, einer Stadtregion mit 350.000 Einwohnern an der „russischen Riviera" am Schwarzen Meer, steht der 15. Saisonlauf auf der Tagesordnung. Ihr Revier ist das „Sochi Autodrom" mitten im „Sochi Olympia Park", rund 30 Kilometer außerhalb des beliebten Bade- und Sommerfrische-Kurortes Sotschi. In diesen Park integriert ist der Rundkurs, der sich mit seinen zwölf Rechts- und sechs Linkskurven über 5,848 Kilometer durch das Olympia-Gelände schlängelt. Die Olympia-Bauten gaben dem Aachener Streckenarchitekten Hermann Tilke sozusagen die Streckenführung vor. Die Baukosten für die F1-Anlage sollen knapp 300 Millionen Euro bei veranschlagten 140 Millionen Euro verschlungen haben. Nach den Winterspielen ist es Kreml-Chef Wladimir Putin mit dem damaligen F1-Strippenzieher, Zampano und F1-„Übervater" Bernie Ecclestone per Handschlag gelungen, auch die Formel 1 an seinen Lieblingsort zu holen. Die ewigen Rivalen Moskau und St. Petersburg wurden jedenfalls brutal ausgebremst. Aber in zwei Jahren, 2023, erhält der Russland GP nach neun Jahren im Igora Drive, 50 Kilometer außerhalb der malerischen Hafen-Metropole St. Petersburg, eine neue Heimat. Die Atmosphäre auf dem Retortenkurs zwischen den olympischen Arenen konnte Fans und Fahrer in den letzten Jahren nie so richtig begeistern und die Rennen nur selten überzeugen. Auf dem Igora Drive hoffen die Veranstalter auf mehr Fans, Action und Spektakel.
Rennen konnten selten überzeugen
Zurück in die Gegenwart nach Sotschi. Dort wo im Februar 2014 das Olympische Feuer während der Winterspiele brannte, glühen seit Oktober des gleichen Jahres die Auspuff-Endrohre. Zum achten Mal steht der Russland-GP am Sonntag (14 Uhr Sky) auf dem Tourneeplan der Formel 1. Sieben Mal hieß der Sieger Mercedes. Drei Stern-Piloten bescherten dem schwäbisch-britischen Werksrennstall die Erfolge: Lewis Hamilton (2014, 2015, 2018, 2019), Nico Rosberg (2016) und Valtteri Bottas (2017, 2020). Eine ziemliche Herausforderung für die Fahrer stellen einige unkonventionelle Kurven dar, mit denen das beeindruckende Sochi Autodrom auftrumpft. Die Piloten befahren die Strecke mit ihren 18 Kurven im Uhrzeigersinn. Die speziellste Kurve ist laut Streckenanalyse von Nico Rosberg Kurve drei. Der Weltmeister von 2016, der im gleichen Jahr mit einem Sieg in Sotschi seine WM Führung ausgebaut hat, erläutert: „Diese Kurve ist ein perfekter Halbkreis, der sich über 180 Grad erstreckt und 750 Meter lang ist. Die ganze Zeit ziehen etwa 3,5 G an dir. Das sind Mega-Fliehkräfte, wenn man bedenkt, dass der Kopf 7,5 Kilo wiegt – da drücken dann also über die gesamte Kurve weit über 20 Kilo auf den Kopf." Streckenplaner Tilke gerät über sein Werk ins Schwärmen: „In diese Kurve drei mit ihrem Halbkreis wird mit mehr als 200 km/h reingefahren, raus geht es mit mehr als 300 km/h, die wird immer schneller. So eine gibt es, glaube ich, noch nicht. Da werden dann die Nackenmuskeln gut gefordert."
Speziell zwei Piloten werden auch in Sotschi wieder gefordert. Und sie werden die Muskeln „spielen" lassen. Wie schon seit Beginn dieser Saison. Der Kampf um die WM-Krone führt nur über den 36-jährigen amtierenden Serien-Weltmeister Sir Lewis Carl Davidson Hamilton, 2020 von der Queen in den Ritterstand erhoben, und seinen 13 Jahre jüngeren Herausforderer Max Emilian Verstappen. Das Giganten- und Generationen-Duell des Mercedes- und des Red-Bull-Piloten springt hin und her, gleicht einem Ping-Pong-Spiel oder dem alten Kinderspiel „Bäumchen wechsel dich". Die ersten vier Rennen (Bahrain, Imola, Portugal, Spanien) führte Hamilton die Fahrerwertung an, ab Monaco setzte sich Verstappen für die nächsten fünf Rennen (Aserbaidschan, Frankreich, Steiermark, Österreich, England) an die Spitze, dann übernahm Hamilton nach Punkten wieder die Fahrerwertung (Ungarn bis einschließlich Belgien) bis Verstappen sich bei seinem grandiosen Sieg beim Heimrennen (Niederlande) wieder die Fahrer-WM eroberte. Diese WM-Führung inklusive der Punkte beim Monza-Samstag-Sprint (aktueller Stand 226,5:221,5) nahm Verstappen mit zum Schwarzen Meer.
Turbulentes Rennen in Monza
Im letzten Triple-Header im Tempo-Tempel der „Kathedrale" in Monza erlebten die beiden erbitterten Rivalen der Rennbahn ein rabenschwarzes Wochenende. Der WM-Kampf eskalierte mit einem Mega-Crash. Beide Titel-Aspiranten strandeten spektakulär im Kiesbett. Beide Kampfhähne verkeilten sich ineinander. Hamilton kam in Runde 26 (von 53 Umläufen) aus der Box, fast parallel flog der „fliegende Holländer" Verstappen nach einem Katastrophenstopp (11 Sekunden) nach einer schnellen Runde heran. Der Niederländer riskierte viel, wollte den Mercedes des Rivalen links überholen, die beiden Boliden berührten sich und kollidierten. Der „Bulle" von Verstappen wurde störrisch, wurde ausgehebelt, sprang förmlich auf den Silberpfeil und landete über Hamiltons Kopf auf dem Sicherheitsbügel. Dieses System, auch „Halo" und frei übersetzt „Heiligenschein" genannt, war der Schutzengel von Hamilton. Der Bügel hat sich zum wiederholten Mal als Lebensretter erwiesen. Beide Piloten konnten unversehrt den Gang in ihre Box antreten. Für Red-Bull-Berater Helmut Marko war dieser sensationelle Crash ein „normaler Renn- unfall". Für RTL-Experte Nico Hülkenberg war das „Racing auf höchstem Niveau." Der Ersatzfahrer von Vettels Rennstall Aston Martin: „Beide Piloten gehen volles Risiko, und dann passiert so etwas eben. Keiner der beiden dürfte bestraft werden." Die Rennkommissare sahen diesen „Huckepack"- Crash aber anders. Sie brummten dem „Bullen" eine Startplatzstrafe mit einer Rückversetzung um drei Plätze beim GP in Sotschi auf.
Einen Monza-Sieger gab es aber auch. Und zwar einen Sensationssieger im Doppelpack: Daniel Ricciardo (32) triumphierte vor seinem Stallkollegen Lando Norris (21). Es war eine Auferstehung mit ganz fetter Beute eines Traditionsteams, drittältester F1-Rennstall. Das erfrischende Sieger-Duo bescherte dem McLaren-Team und seinem deutschen Teamchef Andreas Seidl (45) nach 238 Rennen den ersten Doppeltriumph seit Montreal/Kanada 2010, den 48. insgesamt. Für den Australier Ricciardo war es sein erster Erfolg seit Monaco 2018 und sein achter F1-Triumph. Für Mercedes holte Valtteri Bottas (32) nach einer fantastischen Aufholjagd von Platz 19 (wegen Motorenwechsel) noch als Dritter die Kohlen aus dem Feuer. Sebastian Vettel (34) wurde Zwölfter und taumelt mit seinem britisch-grünen Aston Martin als WM-Zwölfter (35 WM-Punkte) im grauen Mittelfeld. Der punktlose Haas-Pilot Mick Schumacher kam als 15. und Letzter ins Ziel. Immerhin sah er in allen bisherigen 14 Saisonrennen die Zielflagge.
Bottas wechselt zu Alfa Romeo
Neben Hamilton beherrschte auch sein Teamkollege Bottas zuletzt die Schlagzeilen. Der „Schattenmann" des Weltmeisters war die Königsfigur auf dem Transfermarkt. Das Personalkarussell nahm nach dem GP der Niederlande richtig Fahrt auf. Zwei Tage nach dem Dünenrennen in Zandvoort wurde am 7. September offiziell kommuniziert, was die Spatzen schon länger von den Dächern der Motorhomes im Fahrerlager pfiffen: Der Finne, der nach dem abrupten Abgang von Weltmeister Nico Rosberg 2016 den Deutschen ab 2017 bei Mercedes ersetzte, muss nach fünf Jahren das Serien-WM-Team verlassen. Der 32-jährige Nordländer dockt ab der Saison 2022 bei dem Schweizer Sauber-Team an, das unter dem italienischen Titelsponsor Alfa Romeo fungiert. Dort übernimmt er das Cockpit seines Landsmannes Kimi Räikkönen, der als dienstältester Pilot mit 41 Jahren nach 20 Jahren im Pulverdampf der Formel 1 freiwillig in Rente geht. Bottas soll einen mehrjährigen Vertrag unterschrieben haben. „Es war der Weg, den ich gehen wollte, und letztendlich bin ich froh, dass ich ihn eingeschlagen habe", so der Finne in einer Pressemitteilung. Er habe auch mit anderen Teams gesprochen, aber Namen wollte er nicht nennen. Bis auf sein Ex-Team Williams blieben die Alternativen sehr überschaubar. Seine neue Heimat Alfa Romeo sei für ihn „aufregend", ließ Bottas wissen.
Bottas war in den vergangen vier Jahren zu keinem Zeitpunkt eine ernsthafte Gefahr für Hamilton im Kampf um den WM-Titel. Vielmehr war er der „Wingman" seines Teamgefährten, heißt: Bottas schirmte Hamilton ab, gab ihm Rückendeckung, Begleitschutz. Dennoch kann er auf neun Siege, 17 Pole Positions und total 54 Podestplätze bislang verweisen. Er habe „ein paar mehr Siege" eingefahren und „mehr Punkte" holen können. „Es hat Spaß gemacht, es war sicher eine Herausforderung, aber ich habe es wirklich genossen, an der Seite von Lewis zu fahren. Er ist natürlich ein großartiger Teamkollege."
Bottas Nachfolger wird das Top-Talent George Russell. Der Brite gehört seit 2017 zum Mercedes Junior-Programm. 2019 stieg der 23-Jährige mit Williams in die Formel 1 ein, wo er während seiner drei Jahre beim Team mit seiner Arbeitsmoral und Performance beeindruckte. Jetzt ist er bereit für den Sprung zu Mercedes, um dort nach der Unterschrift eines langfristigen Vertrags die nächste Phase in seiner Karriere an der Seite von Lewis Hamilton einzuläuten. „Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit George und darauf, ihn als Fahrer reifen zu sehen", begrüßte Hamilton seinen Landsmann und neuen Teamkollegen in den sozialen Medien.