Der saarländische Landtagspräsident Stephan Toscani, (CDU), sprach in einem Redaktionsgespräch mit FORUM über den Zustand der Demokratie in der Coronakrise, die Idee von Bürgerforen und universelle Menschenrechte.
Herr Toscani, viele Leute beklagen sich, dass sie irgendwann ein Kreuzchen machen dürfen und sonst nichts mit Demokratie zu tun haben …
Das Wahlrecht ist das Königsrecht der Bürgerinnen und Bürger in einer Demokratie. Ich erinnere an Alexei Nawalny, Joshua Wong, die mutigen Frauen in Weißrussland. Sie sitzen im Gefängnis, sind im Exil, weil sie nichts anderes wollen als freie Wahlen. Das Wahlrecht ist etwas sehr Kostbares. Deshalb appelliere ich an die Bürgerinnen und Bürger, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen.
Aber manche wollen mehr…
Das können sie ja auch. Sie können sich in Parteien engagieren, können mit der Politik in Dialog treten. Es gibt Volksbegehren und Bürgerentscheide auf lokaler Ebene. Als Landtagspräsident habe ich ein weiteres Element aufgegriffen: Repräsentative Bürgerforen. Es ist normal, dass wir zu Gesetzesvorhaben Interessengruppen anhören. Wir hören Interessengruppen an, die in der Regel besonders für oder gegen ein geplantes Vorhaben sind, aber weniger die „unbeteiligten" Bürger.
Wie funktionieren solche Bürgerforen?
Bürgerforen bedeuten repräsentative indirekte Demokratie. Repräsentative Bürgerforen werden nach der soziologischen Zusammensetzung der Gesellschaft zusammengestellt. Die Berufung der einzelnen Mitglieder der Bürgerforen selbst erfolgt nach dem Zufallsprinzip. Diese Bürger diskutieren miteinander sowie mit Experten. Anschließend bilden sie sich dann eine Meinung. Das hat den Vorzug, dass nicht bestimmte Interessengruppen die Debatte dominieren, sondern Bürger, die nicht von vorneherein für oder gegen eine bestimmte Initiative sind, weil sie in der Regel nicht persönlich betroffen sind. Dagegen bergen die Formen der direkten Demokratie, die wir kennen, die Gefahr von Polarisierung. Bei einem Volksentscheid wird nach „ja" oder „nein" gefragt. Das eröffnet auch Populisten Möglichkeiten, Volksentscheide zu missbrauchen.
Gibt es im Saarland ein solches Bürgerforum?
Bislang nicht. Ich habe eine Arbeitsgruppe des Landtagspräsidiums berufen, in der wir uns unter anderem über dieses Instrument Gedanken machen. Wenn ja, unter welchen Bedingungen das geschehen sollte. Die Diskussion ist noch nicht abgeschlossen.
Während der Coronakrise erleben es einige Menschen als intransparent und undemokratisch, wenn Gesetzesentscheidungen nicht mehr im Parlament diskutiert, sondern unter 17 Ministern und einer Kanzlerin hinter verschlossenen Türen entschieden werden.
Ich finde, in der Coronakrise hat sich die parlamentarische Demokratie bewährt. Die Bundes- und Landesregierungen haben ihren Job gemacht, indem sie auf Basis von Verordnungen gehandelt haben. Das war im Infektionsschutzgesetz so vorgesehen, denn dieses Gesetz bildet die parlamentarische Grundlage. Diese wurde von den Abgeordneten des Bundestages und nicht von Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten geschaffen. Als im Herbst 2020 klar wurde, dass die Grundrechtseinschränkungen relativ lange andauern, hat der Gesetzgeber – Bundestag und Bundesrat – nachgesteuert. Er hat die Rechtsgrundlage verstärkt. Hinzu kommt, dass Verordnungen der Regierung sowie Gesetze des Parlaments von Gerichten überprüft werden konnten. Da haben Gerichte zum Teil korrigiert. Von daher glaube ich, dass sich die Gewaltenteilung bewährt hat. Ein anderes Thema ist der Föderalismus: Wegen der Grundentscheidung des Infektionsschutzgesetzes, dass der Bundesgesetzgeber den rechtlichen Rahmen setzt und die Landesregierungen per Verordnung handeln, gab es großen Abstimmungsbedarf. Das hat mehr oder weniger gut funktioniert. Es gab diese Sitzung vor Ostern, von der alle gesagt haben: Das war unterm Strich nicht gut. Dennoch kann man insgesamt festhalten: Es gab eine gute Abstimmung im bundesstaatlichen Gefüge. Dass unterschiedliche Regelungen getroffen werden, ist doch nicht verkehrt im föderalen System, zumal wenn die Infektionszahlen und die Hospitalisierung deutschlandweit unterschiedlich sind. Das ermöglicht flexible und regional angepasste Lösungen. Was mir in der Corona-Krise mehr Sorgen gemacht hat, ist die heftige Polarisierung, die wir erlebt haben. Wir haben auf der einen Seite diejenigen, denen jede Lockerung viel zu weit ging, die Angst um ihre Gesundheit, um ihr Leben hatten. Die die politisch Handelnden persönlich verantwortlich machen wollten nach dem Motto: „Wenn mir was passiert, wenn meinen Eltern oder meinem Kind was passiert, seid ihr Politiker schuld." Und auf der anderen Seite das krasse Gegenteil: Diejenigen, die Sorge hatten, dass Freiheitsrechte zu weitgehend eingeschränkt werden, die in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht waren.
Haben Sie Ideen, um den Polarisierungstendenzen etwas entgegenzuhalten?
Ich werbe dafür, respektvoll miteinander umzugehen. Es soll um Argumente gerungen werden, aber in einer zivilisierten Form. Man sollte dem anderen nicht per se Irrationalität und Unfähigkeit unterstellen. Polarisierung tut einem Land nicht gut. Wir erleben das in den USA. Eine öffentliche Debatte, die von Gift und Galle geprägt ist, ist nicht gut für eine Demokratie, weil Vertrauen verloren geht. Zum Glück ist das bei uns in Deutschland noch nicht gekippt. Aber wir haben Anzeichen, die uns nachdenklich machen sollten. Deshalb bin ich dafür, dass wir nach der Coronakrise das Ganze aufarbeiten. Dass wir zum Beispiel fragen: Wie stark stand das Gesundheitssystem tatsächlich vor dem Kollaps? Ich würde sagen bundesweit nicht. Regional hat es sicherlich Belastungssituationen gegeben.
Was ist mit Verschwörungstheoretikern, die sagen, es würden alle manipuliert und keiner dürfe mehr sagen, was er denkt. Ist das für Sie eine Bedrohung für die Demokratie?
Jeder kann sich äußern. Gerade, dass man auch wissenschaftlich fragwürdige Meinungen vertreten darf, das ist geradezu der Beweis dafür, dass wir in einer freien Gesellschaft leben. Und dass dazu auch kein besonderer Mut gehört. Mut braucht man in Diktaturen. Wir haben zum Glück eine offene Gesellschaft, in der Demonstrationen und Meinungsäußerungen möglich sind. Von daher muss man klar sagen: Nein, wir sind nicht in der Gefahr, in eine Diktatur abzugleiten. Sorgen muss man sich machen, wenn die Irrationalität überhand nimmt. Demokratie lebt von Vernunft, Kompromissfindung und von rationaler Diskussion. Dazu gehört, seinen Standpunkt auch emotional zu vertreten. Aber wenn es abgleitet ins Irrationale, dann wird es schwierig für eine Demokratie.
Wie viel Irrationalität verträgt denn die Demokratie?
Demokratie lebt von Voraussetzungen, die sie selbst nicht erzeugen kann. Zum Beispiel von einer überwiegend vernunftgeprägten Debatte. Dass Menschen sich möglichst rational verhalten, kann aber keine Regierung und kein Parlament dieser Welt anordnen. Eine weitere Voraussetzung, von der die Demokratie lebt, ist, dass Bürger sich für ihr Gemeinwesen interessieren, ihr Wahlrecht ausüben, dass sie ihre Meinung sagen und sich einbringen. Kurz: Dass sie mitmachen.
Wir haben kürzlich den überraschenden Abzug aus Afghanistan erlebt. Sind wir 20 Jahre nach dem 11. September als westliche Gesellschaft weitergekommen, oder sehen Sie das eher als Rückschlag?
Wir müssen uns auf zwei Ebenen damit auseinandersetzen. Die eine ist die militärische. Die andere die politische. Es geht um die Frage: Wie wollen wir leben und sind wir bereit, unsere Lebensform zu verteidigen gegen Angriffe wie am 11. September 2001. Wichtig ist die Frage: Hat der Westen richtig reagiert? Hat er sich von den Zielen her in Afghanistan übernommen? Al-Qaida zu schwächen ist gelungen. Aber hat man nicht die darüber hinaus gehenden Ziele, zu weit und zu unrealistisch gefasst? Das ist die Diskussion, die wir jetzt führen müssen.
Inwieweit haben wir als Westler nicht total überzogen, in dem wir einer muslimischen Bevölkerung, die im wahhabitischen Glauben großgeworden ist, erklären, dass Frauen etwa im Minirock rumlaufen können? Inwieweit ist es nicht auch basisdemokratisch zu sagen: Die Menschen, die dort leben, die laufen eben mit dem Schleier rum?
Es geht ja nicht um den Minirock, sondern darum: Haben Frauen elementare Rechte – auf Bildung, auf individuelle Lebensführung? Jenseits aller Religionen und Kulturen gibt es universelle Menschenrechte, die von der Weltgemeinschaft anerkannt sind. Das sind ja nicht nur westliche Werte, sondern Rechte, die in der UN-Menschenrechtscharta niedergelegt sind. Es geht um Rechte, die jedem Menschen auf der Welt zustehen. Von daher bin ich überzeugt, dass wir deren universellen Geltungsanspruch immer vertreten müssen. Die andere Frage lautet: Sind sie immer durchsetzbar? Und wie weit gehen wir in der Durchsetzung? Das ist der entscheidende Unterschied. In Hongkong, in Russland, in Weißrussland sitzen Menschen im Gefängnis, die für diese Menschenrechte eintreten. Die brauchen unsere Solidarität und die dürfen wir nicht vergessen. Wir können die Menschenrechte aber nicht in allen Fällen mit militärischer Gewalt durchsetzen. Wir müssen akzeptieren, dass es andere Anschauungen gibt. Und wir müssen dann am Ende auch in Afghanistan anerkennen, dass es nicht gelungen ist, staatliche Strukturen aufzubauen, die nachhaltig sind. Ich glaube schon, dass es einen relevanten Teil der afghanischen Bevölkerung gibt, insbesondere bei den Frauen, die die Entwicklung der letzten 20 Jahre gut fanden.