Minderheitsregierung, Sechs- oder Sieben-Parteien-Koalitionen: Zum Ende der Volksparteien lernen Europas Demokratien, mit mehr Parteien mehr Machtoptionen auszuloten, funktionierende Regierungen zu bilden – oder daran zu scheitern.
Eines ist sicher: Die kommenden Koalitionsverhandlungen in Berlin werden schwierig. Ob sie jedoch so langwierig werden wie zuletzt? Oder ziehen die möglichen Partner früher an der Reißleine? Fünf bis sechs Wochen war bislang das äußerste der Gefühle, bis ins Jahr 2017, als die AfD in den deutschen Bundestag einzog. Plötzlich waren die üblichen Machtoptionen verschwunden, neue mussten her. Das Dreierbündnis aus CDU, Grünen und FDP scheiterte an Christian Lindner, der jetzt einen neuen Anlauf unternimmt. Und nach dieser Wahl ergeben sich noch mehr mögliche Konstellationen als 2017. Für Deutschland mögen langwierige Koalitionssondierungen und Koalitionen aus mehr als zwei Parteien oder gar Minderheitsregierungen neu sein, in anderen EU-Ländern sind sie längst zu einer Notwendigkeit geworden.
Beispiel Niederlande. Sechs Monate nach der Parlamentswahl 2021 ist Ministerpräsident Mark Rutte heute immer noch im Amt, geschäftsführend. 18 Parteien umfasst das niederländische Parlament mittlerweile, was die Koalitionsverhandlungen immens in die Länge gezogen hatte – vergeblich. Wahrscheinlich wird Rutte, der Anfang des Jahres wegen einer parlamentarischen Rüge unter Druck geraten war, letztlich nur noch die Option einer Minderheitsregierung bleiben.
Beispiel Spanien. Dort platzten Koalitionsverhandlungen, die sich von April bis September 2019 hingezogen hatten. Zwar hatte der Sozialdemokrat Pedro Sanchez eine relative Mehrheit erreicht, aber nicht die notwendige Regierungsmehrheit im Parlament. Die Verhandlungen scheiterten, weil ihm die Linksaußen-Partei Unidas Podemos die Gefolgschaft verweigerte. Im November wählten die 37 Millionen wahlberechtigen Spanier neu, zum vierten Mal in vier Jahren. Das Ergebnis: Zwölf Parteien und zwei Parteilose sitzen nun im Parlament, die PSOE von Sanchez und Unidas Podemos bilden notgedrungen eine Minderheitskoalition, die von regionalen Parteien geduldet wird. Auf diese Weise regiert Ministerpräsident Sanchez bislang trotz Krise recht erfolgreich.
Lange Hängepartie in den Niederlanden
Beispiel Italien. Dort stützt sich Ministerpräsident Mario Draghi seit dem Koalitionsbruch des Kabinetts Conte Anfang 2021 auf eine Sechs-Parteien-Koalition, darunter die eher linkspopulistische Fünf-Sterne-Bewegung und die rechtspopulistische Lega Nord – und das mit einigem Erfolg, wie die nationale und internationale Presse nach ungläubigem Augenreiben feststellt. Was der konservative Technokrat Draghi aus den beiden einst zeternden und polternden Flügelparteien seiner Regierungskoalition geformt hat, ist ein erstaunlich professionell und lautlos arbeitender Problemlösungsapparat.
Beispiel Belgien. Nach fünfmonatigen Sondierungsrunden, einer gescheiterten Regierungsbildung, erneuten sechs Monaten Sondierungen, einer Übergangsregierung, drei Monaten Sondierungen, und einer zweiten gescheiterten Regierungsbildung ist seit 1. Oktober 2020 die Sieben-Parteien-Regierung unter Ministerpräsident Alexander De Croo im Amt – fast 500 Tage nach der Wahl. Zu weit lagen die Forderungen der einzelnen Parteien auseinander, als dass man sich rasch einigen konnte – eine besonders schwierige Situation in Belgien, da nicht nur die Parteien, sondern auch die Landesteile Wallonien, Flandern sowie die deutschsprachige Gemeinschaft in einer möglichen Regierung angemessen repräsentiert werden wollen. Dementsprechend protestierten die Flamen rasch, weil französischsprachige Parteien dominierten. Schon die Vorgängerregierung hatte eine Weile gebraucht: 2011 waren es 541 Tage von der Wahl bis zur Regierungsbildung gewesen.
Egal wie lange die Koalitionsverhandlungen dauern werden, sie werden zum neuen Alltag der nächsten deutschen Regierungen. Denn die Zeit der Volksparteien ist seit dem Wahlabend am
26. September endgültig vorbei.