Die Wahl ist vorbei, die Arbeit muss sofort beginnen. Keine der anstehenden Herausforderungen erlaubt irgendeine Form von Aufschub. Ein Leitfaden für die bevorstehenden Koalitionsverhandlungen.
Das Land steht vor einem enormen Wandel, der keinen Lebensbereich auslassen wird. Das ist im Grundsatz unbestritten und allen klar, auch wenn die ganze Tragweite im Wahlkampf auf vorsichtigen Pfoten umschlichen worden ist. Von allen Protagonisten. Weil praktisch alle notwendigen Veränderungen gleichzeitig angepackt werden müssen, wird ein massives Knirschen unvermeidbar sein.
Gesellschaftlicher Zusammenhalt
Dies wird eine der zentralen Aufgaben der Politik in den nächsten Jahren bei der Bewältigung der massiven Umbrüche sein. Die Zeit für ein sorgfältig diskutiertes und fein austariertes Vorgehen ist in den vergangenen Jahren mangels Mut und Entschlossenheit weitgehend vertan worden.Die Pandemie hat ziemlich schonungslos offengelegt, was eigentlich längst klar war: Deutschland hat sich in vielen Bereichen selbst abgehängt, hat sich teilweise bequem zurückgelehnt, während sich die Welt drumherum auf die Überholspur gesetzt hat.
So pauschal gilt diese Bestandsaufnahme selbstverständlich nicht für alle Bereiche gleichermaßen. Aber sie beschreibt eine mentale Verfasstheit mit einer Gemengelage aus Bequemlichkeit, Trägheit und Angst vor allzu viel Veränderung. Dadurch ist der unausweichliche Veränderungsdruck massiv gestiegen. Gleichzeitig hat sich die Gesellschaft mit einer Entwicklung eingerichtet, die nicht nur Sozialverbände schon lange als Spaltung massiv kritisieren. Die Veränderungsprozesse werden diese gesellschaftlichen Spaltungen massiv verfestigen und beschleunigen, so die ziemlich einhellige Warnung.
Neben einer wirtschaftlich-sozialen Spaltung ist zugleich eine massive Bedrohung aus dem Bereich gewachsen, den man unter „Querdenker" zusammenfassen könnte. Bewegungen, die in all ihrer internen Differenziertheit in der Gesamtheit die demokratisch-liberale Grundordnung infrage stellen und inzwischen auch gewaltbereit angreifen. Und schließlich entwickelt sich seit einiger Zeit auch in ganz anderen gesellschaftlichen Bereichen eine neue intolerante Unversöhnlichkeit, die sich unter dem Begriff einer Cancel Culture zusammenfassen ließe. Vor dieser Grundfolie geht es in so gut wie allen politischen Teilbereichen um nicht weniger als darum, dass sich Deutschland neu erfinden muss.
Olaf Scholz hatte zwar im Wahlkampf „Respekt" zum zentralen Motiv der SPD erhoben, allerdings blieb das Schlagwort ziemlich blutleer. Der Wahlkampf von Armin Laschet, dem zuvor der Ruf eines Versöhners vorausgegangen war, war zum Schluss unter dem Schlagwort einer „Richtungswahl" mit einer aufgewärmten Variante der „Roten Socken" eher auf Spaltung ausgelegt. FDP und Grüne haben schon früher nicht das Image angeheftet, sich in allererster Linie für die Überwindung sozialer und mentaler Klüfte einzusetzen.
Egal in welcher Konstellation man sich diesen Herausforderungen stellt, wird allen klar sein müssen, dass es um weitaus mehr gehen muss, als in einem Koalitionsvertrag technokratisch detaillierte Maßnahmenbündel für alle Teilbereiche des politischen Geschäfts zu formulieren. Wobei alleine das schon ein Kraftakt der besonderen Art wird, weil so gut wie keines der notwendigen großen Projekte Halbherzigkeiten duldet.
Klimawandel
Dazu ist im Grunde alles gesagt, diskutiert und in den Grundzügen geklärt. Es geht um Tempo bei der Umsetzung. Nicht nur, weil das Bundesverfassungsgericht sich dazu klar erklärt hat. Das noch eilig vor der Sommerpause beschlossene Klimagesetz ist dazu eine Grundlage. Aber es ist längst klar, dass das alleine nicht ausreicht. Vorlagen für konsequentere Schritte finden sich in den Ministerien und dürfen nicht mehr der gegenseitigen taktischen Blockade zum Opfer fallen. Folgen den Bekenntnissen aller Parteien auch Taten, und das möglichst eins zu eins zu den Wahlkampfaussagen, dann könnten die Vereinbarungen von Paris und selbst formulierte Ziele erreicht werden. Aber auch nur dann.
Energie
Untrennbar mit dem Klimawandel verbunden ist die Energiefrage mit den ebenfalls lange bekannten Herausforderungen. Notwendige Maßnahmen zur Beschleunigung des Ausbaus erneuerbarer Energien sind ausreichend diskutiert. Sie müssen jetzt – bei allen damit verbundenen Bauchschmerzen – umgesetzt werden. Wasserstoff ist inzwischen zu einem Megathema geworden, setzt aber in den Dimensionen, um die es geht, klare europäische und eigentlich globale Strategien voraus.
Verkehr
Der ziemlich einseitige E-Auto-Boom ist nicht risikolos. Alternativen allzu stiefmütterlich zu behandeln ist aber ebenfalls ein Risiko. Beides weckt Erinnerungen an den AKW-Boom, an dessen Folgen sich das Land nicht nur bei der Endlagersuche noch lange abarbeiten wird. Die Bahn muss so attraktiv werden, dass sich die Frage nach einem Verbot von Inlandsflügen gar nicht stellt. Kurzum: Ein von Verbänden lange gefordertes Mobilitätsgesetz zur integrierten Verkehrsplanung ist überfällig.
Transformation
Wenn Deutschland nicht nur Industrieland, sondern führende Industrienation bleiben will, muss die längst laufende Transformation noch deutlich an Dynamik zulegen auf dem Weg zu einer digitalen und nachhaltigen Wirtschaft. Auf die erwartbaren Friktionen haben sich auch die Gewerkschaften längst eingestellt und beteiligen sich aktiv an der Gestaltung. Weil mehr Verunsicherung herrscht, als Chancen gesehen werden, braucht das Land Aufbruchhstimmung.
Bildung
Mit den Erfahrungen der Pandemie sollte die Kreidezeit in den Schulen jetzt tatsächlich zu Ende sein. Dem technischen Digitalisierungsschub hinkt aber nach wie vor die Pädagogik hinterher. Den Zentralisierungsforderungen mit dem Ende des bildungspolitischen Föderalismus nachzugeben, wäre keine sonderlich kluge Maßnahme einer nachhaltigen Entwicklung. Im Gegenteil müssten Länder inhaltlich noch flexibler und experimentierfreudiger werden. Dafür muss sichergestellt sein, dass Schüler in ärmeren Regionen die gleichen Möglichkeiten haben wie in reicheren.
Gesundheit
Die Pandemie hat so ziemlich alle Schwächen im Gesundheitsbereich offengelegt, ohne dabei im Kern besonders Überraschendes aufzuzeigen. Weder Personalmangel im Pflegebereich noch die Art der Finanzierung sind Baustellen, die sich erst jetzt auftun. Auch wenn das überraschenderweise im Wahlkampf allenfalls eine untergeordnete Rolle gespielt hat, muss die neue Bundesregierung an dieses zugegebenermaßen undankbare Thema ran.
Rente
Ein bekanntes Dauerthema, nicht nur wegen der ebenso bekannten beachtlichen Kluft zwischen gesetzlichen Renten und Beamtenpensionen. Die Riester-Rente gilt als gescheitert, die demografische Entwicklung setzt die gesetzliche Rente massiv unter Druck. Die Vorstellungen über Renteneintrittsalter, -höhe und -beitragssatz gehen deutlich auseinander. Kompromisse mit kurzer Haltbarkeit schaffen dabei kein Vertrauen.
Wohnen
Dies hat sich erst gegen Ende des Wahlkampfes zu einem heftig umstrittenen Thema entwickelt, obwohl es ebenfalls seit Jahren Dauerbrenner ist und sich zu einer der sozialen Fragen entwickelt hat, die selbst Menschen mit festem Job wegen explodierender Preise und Kosten zunehmend Sorgen machen. Mietpreisbremse und selbst Enteignungen sind Schlagworte aus der Debatte, die die Dringlichkeit des Themas anzeigen.
Finanzen
Das alles ist nicht zum Nulltarif zu haben, dazu kommen die pandemiebedingten Schulden. Das Finanzierungskonzept nur auf das Prinzip Hoffnung (allein durch Wirtschaftswachstum) aufzubauen, wird nicht reichen.
Europa
Im Kern gehen die europapolitischen Vorstellungen der möglichen Koalitionäre gar nicht weit auseinander. Entscheidend ist, mit wie viel Energie künftig Europapolitik betrieben wird. Die französische Präsidentschaft im kommenden Halbjahr wird gleich zum ersten Lackmustest über Ambitionen der größten Wirtschaftsnation.
Außen- und Sicherheitspolitik
Spätestens seit dem Afghanistan-Desaster ist eine Neuausrichtung in der Außen- und Sicherheitspolitik, aber auch der Bündnispolitik unvermeidbar. Traditionell hat dieser Bereich im Wahlkampf –
trotz der Afghanistanereignisse – kaum eine Rolle gespielt. Die neue Bundesregierung muss eine klare Linie finden, wenn Deutschland in den bevorstehenden Gesprächen eine mitentscheidende Rolle spielen will.