Welche Voraussetzungen haben die denkbaren Koalitionen in Berlin, wenn ein möglicher Partner solch herbe Verluste eingefahren hat wie die CDU/CSU? Die Verhandlungen zwischen den Parteien werden zu einer schwierigen Pokerrunde – mit Vorteil SPD.
Zwei Dinge sind klar: Die Koalitionsverhandlungen in Berlin werden in diesem Jahr bunt, und FDP-Generalsekretär Volker Wissing ist in diesen Tagen nicht zu beneiden. Im Auftrag seines Parteichefs Christian Lindner wird er zum Mittler zwischen der FDP und den Verhandlungsführenden in der SPD und den Grünen. So weit, so normal.
Ab jetzt wird ausgelotet. Der 51-jährige FDP-Politiker aus Landau ist dafür momentan genau der richtige Mann. Denn Wissing war noch bis Mitte Mai dieses Jahres Wirtschaftsminister in der Ampel-Regierung von Rheinland-Pfalz von SPD-Ministerpräsidentin Malu Dreyer. Der Volljurist kennt sich also bestens aus mit einem Regierungsbündnis aus SPD, Grünen und FDP. Doch Wissing muss in seinem derzeitigen Agieren vorsichtig sein. Denn Lindner ist kein wirklicher Freund einer Ampelkoalition. Forciert Wissing also die Sondierungen mit Sozialdemokraten und den Grünen, könnte ihm dies von Christian Lindner den Vorwurf einbringen, er sei voreingenommen. Andererseits führt für die FDP kein Weg an Gesprächen mit der SPD und den Grünen vorbei, auch wenn Christian Lindner seinen politischen Partner schon vor der Wahl woanders sah.
Kein wirklicher Ampel-Freund
Er und Unions-Kanzlerkandidat Armin Laschet kennen sich über Jahre hinweg gut als Koalitionspartner im nordrhein-westfälischen Landtag. Sie sehen sich übereinstimmend als natürliche Partner. Lange hat FDP-Chef Lindner während des Schlinger- und Pannen-Wahlkampfes zu Armin Laschet gehalten. Bis es dann am Ende nicht mehr ging, Lindner geriet selbst in die Kritik seiner eigenen Parteifreunde, Laschet drohte für die FDP zur Belastung zu werden. Nur deshalb will FDP-Chef Lindner jetzt nicht die Koalitionstür zur Union unnötig zuschlagen, immerhin ist auch ein Jamaika-Bündnis denkbar.
Offen von der Möglichkeit eines schwarz-grün-gelben Bündnisses spricht derzeit, in seiner Not, allerdings nur Armin Laschet. Die FDP ist diesbezüglich angeschlagen, war es doch Christian Lindner, der die Jamaika-Verhandlungen um kurz nach Mitternacht des 20. November 2017 hat platzen lassen. Der damalige Lindner-Ausspruch „Es ist besser nicht zu regieren, als falsch zu regieren" hängt den Liberalen nun wie ein Klotz am Bein. Obendrein haben sich die Mehrheiten nach dieser Bundestagswahl rapide zugunsten der Grünen verschoben. Vor vier Jahren waren die Grünen nach einem deprimierenden Wahlergebnis froh, wenn auch als Junior, überhaupt bei den Sondierungen mit am Tisch sitzen zu dürfen. Damals waren sie zu allerhand Zugeständnissen bereit, was die die FDP aber trotzdem nicht überzeugen konnte.
Doch das Machtgefüge ist jetzt ein völlig anderes. Bündnis90/Die Grünen haben ihr Wahlergebnis gegenüber 2017 beinahe verdoppelt und Jamaika-Verhandlungen im Übrigen nicht wirklich nötig. Denn da ist ja noch die Ampel. Und eine Bundesregierung unter einem SPD-Kanzler Olaf Scholz und diesmal den Liberalen als Juniorpartner ist aus grüner Sicht wesentlich reizvoller. Es ist kein Geheimnis, das Sozialdemokraten und Grüne zusammen über eine erheblich größere gemeinsame, politische Schnittmenge verfügen als Grüne und Union. Abgesehen von dem Umstand, dass allein schon die einfachen Mehrheitsverhältnisse im zukünftigen Bundestag bei einer Ampel auch ein bisschen stabiler wären, als in einem Jamaika-Bündnis.
Zukünftig finden sich unter der gläsernen Reichstagskuppel 735 Bundestagsabgeordnete ein, 26 mehr als bisher. Die Mehrheit liegt zukünftig also bei 368 Abgeordneten. Ein Bündnis aus SPD, Grünen und FDP käme auf 416 Abgeordnete, also satte 48 über der Mehrheit. Das Bündnis von Union, Grünen und den Liberalen kommt auf 406 Stimmen, also 38 über dem gesetzgeberischen Muss. In einer Zweier-Koalition im Bundestag funktioniert auch eine 38- Stimmen-Mehrheit ohne Probleme, bislang nannte man das Große Koalition.
Doch genau genommen handelt es sich bei einem möglichen Jamaika-Bündnis nicht um ein Dreier-, sondern mit der CSU um ein Vierergestirn am politischen Himmel über Berlin: Der Wahlabend hat die CDU in ihrem Selbstverständnis als Regierungs- und vor allem Kanzlerpartei völlig infrage gestellt und damit reichlich verunsichert. Die vermeintlich starke Unions-Schwester CSU aus Bayern hat jedoch ebenfalls ein katastrophales Bundestagswahlergebnis zu verdauen. Vor allem CSU-Chef Markus Söder wird in den kommenden Monaten nichts unterlassen, um sich aus der Münchener Staatskanzlei heraus auf Kosten der CDU zu profilieren. Das würde erst recht gelten, sollte es tatsächlich zu einer schwarz-grün-gelben Bundesregierung unter einem möglichen Bundeskanzler Armin Laschet kommen. Um das schlechte Ergebnis aufzuarbeiten, wären CDU/CSU also vermutlich erst einmal mehr mit sich selbst beschäftigt als mit allem anderen. Dazu kommen erstarkte Grüne, die sich beim Klimaschutz profilieren wollen und nach Zugewinnen eine nicht minder selbstbewusste FDP.
Es bedarf keiner gesonderten Expertise des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages, dass so eine Regierungskoalition mit derartigen Gegensätzen auch mit einer 38-Stimmen-Mehrheit im Parlament nicht ohne Blessuren über vier Regierungsjahre zu retten sein würde. Dagegen könnte eine Ampel besser funktionieren. Alleine die parlamentarische 48-Stimmen-Mehrheit würde bei Abstimmungen einige Ausreißer aus dem eigenen Lager zu einer Randerscheinung werden lassen. Und es sind in diesem Fall eben nur drei Parteien die unter einen Hut gebracht werden müssen. Dazu kommt, drei rechnerische Sieger in einer Regierung sind wahrscheinlich eher bemüht, auch die Partner gut aussehen zu lassen und Kompromisse zu machen.
Partner müssen ihr Gesicht wahren
Es liegt nun bei SPD und Grünen, die FDP an den Sondierungstisch zu bekommen. Ein erster Köder für mögliche Sondierungen ist offenbar auch schon ausgeworfen. Das Finanzministerium könnte ohne Weiteres der FDP zugestanden werden, heißt es bei den Grünen. Dazu könnte es dann noch ein Digitalministerium geben, damit könnten die Liberalen also ihre Kernkompetenzen abdecken. Umgekehrt könnten die Grünen dann ein Klimaministerium bekommen, so erste Planspiele bei der SPD hinter verschlossenen Türen. Selbstverständlich muss Olaf Scholz zur Sondierungen einladen, ohne vorher zu viel zu versprechen. Das verdirbt nur die Preise.
Und in der SPD ist man überzeugt, großen Verhandlungsspielraum haben weder die Grünen noch die FDP: Die Grünen wollen nach 16 Jahren Opposition endlich wieder an die Schalthebel der Macht, und diesmal stellt sich vermutlich nicht mehr die nervige Frage aus rot-grünen Schröder-Zeiten nach Koch und Kellner. Ein Kanzler Scholz, mit knapp 26 Prozent gewählt, könnte sich solch eine Anmaßung gegenüber einer Vizekanzlerin oder einem Vizekanzler mit knapp zwölf oder sogar 15 Prozent im Rücken nicht mehr erlauben.
Doch bis es überhaupt so weit ist, muss es erst mal zu Sondierungen kommen. Allen Beteiligten ist bereits jetzt schon klar, Bundeskanzlerin Angela Merkel hat nach dieser Bundestagswahl die besten Aussichten, tatsächlich die am längsten amtierende Bundeskanzlerin der Republik zu werden. Bislang hält Helmut Kohl den Rekord mit 5.869 Tagen. Am 17. Dezember könnte Merkel diesen Rekord einstellen. In Anbetracht der schwierigen politischen Gemengelage erscheint dies nicht unwahrscheinlich.