Die neue Bundesregierung braucht eine Vision von Deutschlands Rolle
In ihrer 16-jährigen Amtszeit hat Bundeskanzlerin Angela Merkel die großen Krisen von den Deutschen ferngehalten. Das gilt für die Innen- wie die Außenpolitik. In der Corona-Pandemie wurden Beschäftigte durch Kurzarbeitergeld und Unternehmen durch Finanzhilfen geschützt. Den Autokraten von Donald Trump bis Wladimir Putin bot die Kanzlerin die Stirn, vermied aber die Eskalation. „Mutti" vermittelte das Grundgefühl: „Es wir schon nicht so schlimm werden."
Nicht geklärt wurden in der Ära Merkel Fragen wie: Was ist Deutschlands Rolle in Europa und in der Welt? Hier hinterließ die Kanzlerin jede Menge Leerstellen. Die neue Bundesregierung muss sie mit einem klar umrissenen Konzept füllen. Infolge der Konzentration Amerikas auf Ostasien ist Europa zu einer Revitalisierung verdammt. Die EU müsste in militärischer, wirtschaftlicher und finanzpolitischer Hinsicht eine deutlich höhere Integration anstreben. Die Europa-Initiativen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron mögen zu flamboyant gewesen sein. Doch Merkels langes Schweigen war ein strategischer Fehler.
Der künftigen Bundesregierung wäre zu raten, Schrittmacher in diesem Prozess zu sein und nicht Bremser. Die EU – und Deutschland – sollten in einer unruhigen Welt deutlich mehr Geld für die Verteidigung ausgeben. Es geht nicht nur um die Einhaltung des Nato-Ziels, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Sicherheit zu reservieren. Die Armeen und Rüstungsarsenale der einzelnen Länder müssen noch viel besser aufeinander abgestimmt werden.
Auch in der Wirtschaft ist mehr Koordination vonnöten. Die EU sollte Technologie-Champions fördern. Warum nicht ein ähnlich ambitioniertes Programm wie die Volksrepublik auflegen? Peking hat unter dem Motto „Made in China 2025" zum Ziel erhoben, in wenigen Jahren Weltmarktführer in Schlüsselbranchen wie E-Mobilität, Robotik oder Pharmazie zu werden. Zu überlegen wäre, ob Brüssel hierfür eigene Investitionstöpfe braucht – etwa aus der geplanten CO2-Grenzsteuer auf klimaschädliche Importe.
Das Verhältnis zu den Vereinigten Staaten muss neu definiert werden. Amerika und Europa bleiben wichtige Partner in der Nato. Aber: Sollen die USA den alten Kontinent im Zweifelsfall verteidigen, ist die Einhaltung des Zwei-Prozent-Ziels beim Rüstungsetat unabdingbar. In Bezug auf das Verhältnis zu China braucht es mehr Klarheit. Die EU und Deutschland müssen nicht die konfrontative Haltung der USA einnehmen; Washington will den politischen, wirtschaftlichen und militärischen Aufstieg Pekings verhindern oder zumindest verlangsamen.
Aber ein handelspolitischer Kuschelkurs und ein bisschen stille Diplomatie – Merkels Lieblings-Instrumente – sind zu wenig. Europa und Deutschland sollten deutlicher als bisher für westliche Firmen den Zugang zum chinesischen Markt einfordern. Menschenrechtsverletzungen in der Provinz Xinjiang oder in Honkong gehören auf die politische Tagesordnung, nicht nur als verschämt versteckter Appendix.
Diese Gratwanderung zwischen teilweiser Kooperation – Klima, Atom-Streit mit dem Iran, Wirtschaft – und Abgrenzung gilt auch für die Beziehungen zu Russland. Imperiale Entgleisungen wie Krim-Annexion, Verhaftungswellen oder Cyberangriffe müssen benannt werden und im Notfall zu Sanktionen führen.
Durch den neuen Fokus der USA auf Ostasien stehen Deutschland und Europa unter Druck, sich mehr um die Krisen in der Nachbarschaft zu kümmern: in der Ukraine, in Libyen oder Mali. Militärische Auslandseinsätze sind minutiöser als bislang auf realistische Ziele zu prüfen. Leitfragen sind: Was soll mit welchen Mitteln bis wann erreicht werden?
Die Welt ist ein ungemütlicher Ort geworden. Nach dem Fall der Mauer 1989 wurden die Hoffnungen des Westens nicht erfüllt: Die Demokratie trat nicht den globalen Siegeszug an. Großmächte wie Russland und China ließen sich nicht durch Einbindung in internationale Institutionen wie die Welthandelsorganisation (WTO) zu pflegeleichteren Akteuren zähmen. Der Machtzuwachs autokratischer Regime und Krisen wie Pandemien, Klimawandel, Armut und Flüchtlingswellen erfordern von der künftigen Bundesregierung eine realpolitische Standortbestimmung. Der Attentismus und die Alles-wird-gut-Politik der Merkel-Ära sind diesen Zeiten nicht mehr angemessen.