Nach dem Brexit türmen sich die Probleme auf den britischen Inseln. Doch neben populistischem Getöse könnte Premier Boris Johnson einen politischen Plan haben, der im Maschinenraum der Labour-Partei entstand.
Der unverwechselbare Kopf des konservativen britischen Premierministers Boris Johnson muss im Augenblick rauchen. Nachdem Großbritannien am 1. Januar den Brexit endgültig vollzogen hatte, häufen sich die Probleme. Lange Staus an den Zollstationen, Bürokratie und Zollkosten verteuern den Handel, es gibt zu wenig Fachkräfte, der erhoffte schnelle Handelspakt mit den USA ist aufgeschoben, Gaspreise verteuern sich.
Diese lange Liste könnte man als Startschwierigkeiten bezeichnen. Johnsons Ziel, genannt „Global Britain", soll Großbritannien wieder als Weltfaktor zu alter Größe führen, außen- wie innenpolitisch. Der jüngste außenpolitische Erfolg: der U-Boot-Deal mit Australien und den USA. Innenpolitisch stechen skurrile populistische Gesten heraus. So ersetzen bald die traditionellen englischen Maßeinheiten Pint, Pfund und Unze die von vielen Brexiteers verhassten EU-Einheiten. Der konservative „Daily Telegraph" zeigte sich jedenfalls erleichtert, dass die britische Krone als Pint-Markierung auf den Biergläsern das EU-CE-Symbol ersetzen soll.
Aber auch wenn diese kleinen Veränderungen viele Traditionalisten zufrieden stimmen, bleibt vor allem ein Problem aus Sicht der britischen Regierung ungelöst: die Grenze zu Nordirland. Noch immer behagt es Großbritannien nicht, wie die Binnengrenzen zwischen dem EU-Land Irland, dem britischen Nordirland und Großbritannien kontrolliert werden, weil Nordirland noch in Teilen dem EU-Recht folgen soll. Brüssel lässt stoisch weiter verlauten, dass das sogenannte Nordirland-Protokoll nicht mehr neu verhandelt wird.
So twitterte Maros Sefcovic, der slowakische Vizepräsident der EU-Kommission, dass sich die „EU im Rahmen des Protokolls weiterhin um praktische Lösungen für die Fragen, die für die Menschen in Nordirland am wichtigsten sind", bemühe. Die Gespräche gehen also weiter, sollen jedoch an der Sache nichts ändern.
„Global Britain" in Schwierigkeiten
Nichts ändern will die Tory-Regierung ihrerseits an der Migrationspolitik. Derzeit leidet die englische Wirtschaft unter dem Mangel an ausländischen Arbeitskräften, die Logistik-Gewerkschaft spricht etwa von 100.000 fehlenden Fahrern. Die britische Supermarktkette Tesco warnt im englischen „Mirror" bereits vor leeren Regalen zu Weihnachten. Das Gesicht dieser Politik, die indischstämmige Innenministerin Priti Patel, blieb erst hart: Die Wirtschaft müsse einheimische Lkw-Fahrer einstellen und sie besser bezahlen. Jetzt sollen es Ausnahmevisa und das Militär richten.
Auch finanziell steht die Regierung unter Druck. Die Corona-Pandemie hat bislang 300 Milliarden Pfund gekostet. Trotzdem will Johnson kostspielige Prestigeprojekte nicht aufgeben. So soll eine neue „Britannia", das Flaggschiff der Nation, für 200 Millionen Pfund neu gebaut werden und auf Werbetour für britisches Business rund um die Welt fahren.
Und auch im Streit ums Klima tut sich die Regierung schwer, konkrete Schritte zu unternehmen. 2050 soll Großbritannien klimaneutral wirtschaften. Aktivisten wollen erreichen, dass dies schneller geht, und fordern ein staatliches Haus-Isolierungs-Programm. Dieses trage gleichzeitig dazu bei, dass ärmere Menschen Geld für Energie sparen könnten. Fast jeden Tag legen die Aktivisten die M25, eine wichtige Verkehrsader in Surrey, und andere Verkehrsknotenpunkte lahm. Innenministerin Priti Patel nannte das Verhalten der Aktivisten „egoistisch", es lenke „von der Sache ab". Die britische Regierung habe bereits 1,3 Milliarden Pfund für Energieeffizienzmaßnahmen ausgegeben. Momentan jedoch galoppiert vor allem der Gaspreis durch die wirtschaftliche Erholung, weniger Gaslieferungen aus Russland und eine geringere Dynamik beim Ausbau der erneuerbaren Energien, so Analysten von Energy Helpline. Etwa die Hälfte des britischen Stroms wird in Gaskraftwerken erzeugt. Auf Millionen britischer Haushalte kommen dadurch Jahresrechnungen mit einem Aufschlag zwischen 139 und 159 Pfund zu, so die Experten.
Innenpolitisch wird der Wind also rauer, auch abzulesen an einer Kabinettsumbildung. Im Grunde nichts Ungewöhnliches, ähnliches läuft auch in der US-Politik immer wieder ab. Eine besondere Bedeutung hat jenes Stühlerücken dennoch, da vor allem Johnson-Unterstützer mehr Macht erhalten. Und Populisten. Skurrilste Personalie: Nadine Dorries wird neue Kulturministerin. Der britischen Öffentlichkeit ist sie vor allem als Bewohnerin der UK-Variante des „Dschungelcamps" ein Begriff, in das sie 2012 in Australien einzog – damals noch als Abgeordnete des Unterhauses, und zwar während der Sitzungsperiode. Dafür erhielt sie eine Strafe, Boris Johnson aber verteidigte sie. Die 64-jährige Bestsellerautorin von eher seichten Milieuromanen fiel in der Vergangenheit vor allem dadurch auf, dass sie stramm konservativ gegen „linksliberale Heuchler" wetterte, die Homo-Ehe ablehnte und die öffentlich-rechtliche BBC zurechtstutzen möchte, deren Gebühren sie nun als Ministerin verhandeln darf.
Blaupause für eine neue Politik ohne Thatcherismus
Außenminister Dominic Raab, einer der führenden Köpfe der Brexit-Bewegung, wird ins Justizministerium versetzt. Während des Afghanistan-Rückzugs war Raab wegen seines Urlaubs in Griechenland in die Kritik geraten, als britische Staatsbürger darauf warteten, aus Kabul ausgeflogen zu werden. Seinen Posten übernimmt nun Liz Truss, ein bekanntes Gesicht aus der Regierungsmannschaft von Theresa May. Truss gilt als konservativer Shootingstar, manche vergleichen sie gar mit der Tory-Ikone Margaret Thatcher.
Auch Michael Gove wird versetzt. Einer der Mitstreiter von Boris Johnson gegen die EU zieht künftig ins Wohnungsbauministerium. Ein Job, der auf den ersten Blick weniger prestigeträchtig erscheint, sich aber künftig als wichtig herausstellen könnte. Denn das Wohnungsbauministerium gilt als Kern von Johnsons „Levelling-up-Agenda", mit der der britische Premier die Lebensverhältnisse des ärmeren Nordens und des wohlhabenden Südens von England einander angleichen will – eines seiner zentralen Wahlversprechen.
Den Kampf an vielen Fronten will Johnson gewinnen, indem er sich Ideen von „Blue Labour" zu eigen macht. „Blue Labour" aber ist kein Tory-Schlagwort, sondern eine Bewegung innerhalb der sozialdemokratischen Labour-Partei, eine Gegenbewegung zum unkritisch neoliberalen „New Labour" eines Tony Blair. Sie will demokratische Erneuerung in Selbstverwaltung mit stärkerer Einbindung der Wähler, ein Gleichgewicht zwischen Markt, Staat und Gesellschaft schaffen, dem Turbokapitalismus entgegentreten, die Natur bewahren und, ganz traditionell sozial konservativ, die Kommune, die Familie und die Nachbarschaft statt eines bürokratischen Wohlfahrtsstaates fördern. Diese Handschrift ist durchaus in Johnsons Politik erkennbar, etwa in der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse zwischen Nord und Süd; in der harten Haltung der Regierung gegenüber der Wirtschaft, die sie zwingen soll, national zu denken und das Gemeinwohl zu fördern, indem sie höhere Löhne zahlt; in einem konservativen Kulturkampf gegen links, um die großstädtisch geprägte, traditionell in liberaler, linker Hand befindliche britische Kultur politisch neu zu besetzen und damit auch die zunehmend konservative kleinbürgerliche und mittelständische Arbeiterschaft hinter sich zu versammeln, weil dies den Wahlsieg bedeuten könnte.
Ein gewagtes Experiment, denn dies würde einen Bruch mit dem kühlen Thatcherismus bedeuten, der das Land bis heute prägt, bis hin zu einem europäischen Binnenmarkt. Dieser aber ist nun, nach dem Brexit, einem globalen Markt gewichen, auf dem sich Großbritannien als Nation ohne das Gewicht der EU im Rücken erst einmal behaupten muss. Ohne nationales Selbstbewusstsein ist dies nicht zu schaffen. Ob die konservativen Tories dazu in der Lage sind, diesen Umbruch als Regierungspartei zu leisten, muss Johnson bis 2024 bewiesen haben. Dann wird wieder gewählt. Aktuell sind seine Umfragewerte laut YouGov eher mies. Aus Johnsons Sicht die einzig gute Nachricht: Auch Labour-Chef Keir Starmer könnte derzeit kaum hoffen, Premier zu werden. Noch scheinen beide Parteien, Tories wie Labour, im Abnutzungskampf um ihre künftige Ausrichtung verstrickt. Aber dies ist längst kein rein britisches Phänomen mehr.