Gerd Müller, bis 2021 Bundesminister für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit, hat eine neue Aufgabe übernommen: Er wird Generaldirektor der Unido in Wien, der UN-Organisation für industrielle Entwicklung und Armutsbekämpfung.
Herr Müller, ein Entwicklungsminister wird gerne übersehen und kann sich in der Öffentlichkeit nicht so richtig profilieren. War Ihnen das Ressort eine Herzensangelegenheit, oder haben Sie es zumindest am Anfang eher als Strafaufgabe empfunden?
Das Amt des deutschen Entwicklungsministers sollte für jeden ein Privileg sein. Durch meine Arbeit habe ich viele Einblicke bekommen, die meine Haltung grundlegend geändert haben. Das fängt bei der Tasse Kaffee am Morgen an: Auf den Kaffeeplantagen in Afrika habe ich gesehen, wie Kinder ausgebeutet werden. 160 Millionen Kinder müssen weltweit schuften – auch für unsere Produkte! Als 2013 die Textilfabrik Rana Plaza in Bangladesch einstürzte, starben 1.134 Näherinnen und Näher. Eine unvorstellbare Katastrophe. Ich habe die Trümmer gesehen, mit den Überlebenden gesprochen – das ist Ausbeutung pur wie im 19. Jahrhundert. Mein Amt gibt mir eine Stimme und Möglichkeiten, dies zu ändern.
Sie haben das Lieferkettengesetz angestoßen, jetzt ist es durch den Bundestag und hat Federn gelassen. Wie zufrieden sind Sie damit?
Das Gesetz ist das Ergebnis von Jahren der Vorarbeit – zusammen mit meinem Kollegen Hubertus Heil und starker Unterstützung aus der Zivilgesellschaft. Es galt, die Einhaltung der Menschenrechte und die Machbarkeit bei den Unternehmen im Blick zu behalten. Am Ende haben wir uns in der Mitte getroffen. Ich wäre an manchen Stellen weiter gegangen, aber das Gesetz ist ein guter Kompromiss: Die Menschenrechte werden weltweit gestärkt. Die Einhaltung wird von einer erfahrenen Behörde kontrolliert. Bei Verstößen gegen das Gesetz sind empfindliche Bußgelder möglich. NGOs und Gewerkschaften können zusätzlich die Rechte der Betroffenen vor deutschen Gerichten unterstützen – durch die neue Prozessstandschaft (die Möglichkeit, für sich ein fremdes Recht einzuklagen, zum Beispiel Kaffeepflücker klagt Arbeitsschutz ein). Besonders wichtig war mir, dass das Gesetz die gesamte Lieferkette umfasst und Kinderarbeit ausgeschlossen ist.
Einer Ihrer Schwerpunkte ist Afrika. Wie entwickelt sich auf diesem Kontinent die Corona-Lage?
In knapp der Hälfte der Länder steigen aktuell die Fallzahlen – 140.000 Afrikaner sind schon an Corona gestorben. Aber weniger als drei Prozent der afrikanischen Bevölkerung sind bislang vollständig geimpft. Es bleibt dabei: Wir besiegen das Virus nur weltweit. Wenn wir Afrika zurücklassen, wird das Virus zu uns zurückkommen. Wir brauchen eine weltweite Impfstoffoffensive.
Was ist in Afrika nötig, um das Virus zu besiegen?
Wir unterstützen die Länder beim Aufbau der Impfstofflogistik, zum Beispiel beim Kühlkettenmanagement, damit Impfstoffe sicher in die ländlichen Gebiete gebracht werden können. Oder mit Sequenziergeräten, die neue Mutationen entdecken und so deren Ausbreitung frühzeitig verhindern können. Zum Beispiel in Südafrika. Aber um das Virus dauerhaft zu besiegen, ist eine eigenständige Impfstoffproduktion nötig. Das wäre eine Initialzündung im Kampf gegen Covid-19 und würde auch einen Technologieschub auslösen, der bei Impfungen gegen Polio oder künftig auch Malaria hilft. Wir unterstützen die Impfstoffproduktion in Südafrika, Senegal und Ghana. Das Institut Pasteur im Senegal hat herausragende Wissenschaftler, die bereits Impfstoffe für Gelbfieber produzieren. In Südafrika werden bereits Covid-19-Impfstoffe abgefüllt. Ich bin optimistisch, dass in sechs Monaten der ersten Corona Impfstoff ‚Made in Africa‘ erhältlich ist.
Sollen Patentrechte freigegeben werden, damit die afrikanischen Staaten eine eigene Impfstoffproduktion aufbauen können?
Wenn die zwangsweise Freigabe der Patente nur eine einzige Dosis mehr bringen würde, wäre ich dafür. Aber eine Patentfreigabe führt nicht dazu, dass wir den Engpass an Impfstoffen für die Entwicklungsländer schnell beseitigen können. Wir müssen vielmehr die Produktion auf Grundlage von freiwilligen Lizenzen, die von Pharmaunternehmen an qualifizierte Produktionsstätten vergeben werden, ausbauen. Das ist ein Unterschied zur unkontrollierten Patentfreigabe! WTO-Chefin Ngozi Okonjo-Iweala aus Nigeria sieht das ebenso. Deswegen setzen wir darauf, Impfstoffhersteller und geeignete Produktionsstätten weltweit zusammen zu bringen und deren Ausbau zu unterstützen.
Die G7-Staaten haben rund zwei Milliarden Impfdosen für ärmere Länder in Aussicht gestellt. Reicht das?
Die Welt darf nicht gespalten werden in Länder, die sich mit hohen Impfraten schnell wirtschaftlich erholen können und solche, die dem Virus schutzlos ausgeliefert bleiben. Die Abgabe von überschüssigen Impfdosen ist der schnellste Weg, die weltweite Impfkampagne voranzubringen. Einige Länder haben sich zum Teil bis zu acht Impfdosen pro Kopf gesichert. Sie können ohne Probleme einen Teil davon abgeben, so dass alle Entwicklungsländer Zugang zu Impfstoffen haben. Deutschland wird 100 Millionen Impfstoffdosen an ärmere Länder geben. Diese Menge sollten wir schrittweise aufstocken, weil inzwischen in Deutschland ausreichend Impfstoff verfügbar ist. Es wäre nicht nachvollziehbar, wenn bei uns Impfdosen verfallen, die in anderen Ländern dringend gebraucht werden.
Von der Covax-Initiative hat man zuletzt wenig gehört. Funktioniert das Modell, dass Covax Impfdosen weltweit ankauft und den Armen und Ärmsten der Welt zu vergünstigten Preisen oder derzeit auch gratis anbietet?
Die globale Impfstoffplattform Covax funktioniert. Seit Februar wurden 245 Millionen Impfstoffdosen an 140 Länder geliefert. Das Ziel ist, bis Februar 2022 30 Prozent der Bevölkerung in Entwicklungsländern zu impfen. Hier sollten wir aber nicht stehen bleiben. Auch in Entwicklungsländern sollten alle Menschen, die es wollen, eine Impfung erhalten. Aber es fehlen immer noch 16 Milliarden Dollar – für die Produktion und weltweit gerechte Verteilung von Covid-19-Impfstoffen, für Diagnostika und Therapeutika. Es bleibt dabei: Das Virus kann nur weltweit bekämpft werden – oder gar nicht.
Sie werden einer neuen Bundesregierung nicht angehören, denn Sie haben sich aus der deutschen Politik zurückgezogen. Was hätten Sie als Minister gerne noch erreicht?
Ich bin zufrieden, aber es bleibt viel zu tun und ich werde in Wien als Generaldirektor der UN-Organisation für nachhaltige Industrialisierung weiterarbeiten am Ziel einer gerechten Globalisierung. Dazu gehört den freien Handel zum fairen Handel zu entwickeln! Die zehn reichsten Menschen besitzen so viel wie die 3,5 Milliarden ärmsten – gegen diese Ungerechtigkeit habe ich vom ersten Tag an gekämpft. Was die Regeln angeht, können wir in einer globalisierten Welt nicht im Jahr 1950 verharren. Die Welthandelsorganisation muss zu einer Fairhandelsorganisation weiterentwickelt werden. Wer dann etwa gegen die ILO-Kernarbeitsnormen, das Pariser Klimaschutzabkommen oder die Biodiversitätskonvention verstößt, verliert seinen Anspruch auf Gleichbehandlung. Und wir müssen grundsätzlich Wachstum vom Ressourcenverbrauch entkoppeln. Auch darüber bin ich mit WTO-Chefin Ngozi Okonjo-Iweala einer Meinung und hoffe, dass wir auch hier in den nächsten Jahren vorankommen.