Besonders im Herbst ist die Sierra Nevada ein wunderbares Reiseziel. Dann sind die Temperaturen angenehm genug, um die alte Königsstadt Granada und das paradiesische Hinterland zu entdecken.
Der Sommer ist Granadas schlimmste Stunde. Der Satz wird Frederico García Lorca zugeschrieben, und man sollte ihn glauben, denn der berühmte spanische Dichter war Granadino. Tatsächlich kann der Himmel im Juli und August weiß vor Hitze flimmern. Entweder lässt man sich davon nicht aufhalten, weil man ja die märchenhafte Alhambra, die Gärten des Generalife-Palastes aus der Maurenzeit oder das hochkarätige Musikfestival Granada sehen will. Oder man besucht die letzte maurische Königsstadt im Herbst oder Frühling.
Der Glut kann man aber auch durch eine Fahrt in die Sierra Nevada entkommen. Spaniens höchstes Gebirge trennt Granada von den frischen Brisen des Mittelmeers, bietet dafür an seinem Südhang in den Alpujarras herrlich kühle Rückzugsgebiete. Wobei „kühl" ungefähr 28 Grad bedeuten. Eine kurvenreiche Straße führt in das abgelegene Poqueira-Tal. Schnell zeigt sich ein ganz anderes Andalusien, ein grünes. Nicht nur der liberale Lyriker Lorca zog sich gern in diese Bergwelt zurück, auch die ersten Muslime, die sie im 8. Jahrhundert besiedelten und die Iberische Halbinsel gut 700 Jahre beherrschten. Weil sie so viel Fruchtbarkeit aus ihrer Heimat nicht kannten, nannten sie die Region „grünes Paradies".
Je weiter man hinauffährt, desto enger, steiler, weltentrückter wird das Hochtal, das zum Nationalpark Sierra Nevada gehört und eine einzigartige Biodiversität aufweist. Der Fluss Poqueira hat hier eine tiefe Schlucht in das Faltengebirge gegraben. Unterhalb der kargen Gipfel blitzen nacheinander drei schneeweiße Bergdörfer im typisch arabischen Baukastenstil auf – Pampaneira, Bubión und Capileira, als wären sie einem Gemälde von Paul Klee entsprungen. Wie hingewürfelt, gruppieren sich am Steilhang die Häuser, alle mit flachen Dächern, auf denen Schornsteine mit hut- oder pilzförmiger Bedeckung wie Geisterwesen sitzen. Die Architektur erinnert an die Berbersiedlungen Nordafrikas, doch die Herkunft ist umstritten.
Heute steht das Trio unter Denkmalschutz und gehört zu den schönsten Dörfern Spaniens. Bis in die 1920er-Jahre führte hier keine Straße hinauf, weshalb die Ursprünglichkeit erhalten blieb. Waren die Bewohner später in die Städte ausgewandert, sind inzwischen viele zurückgekehrt und haben ihr Dorf liebevoll herausgeputzt. Jedes hat eine Schule, ein Arztzentrum und eine Apotheke. Der Tourismus sorgt für ein gutes Auskommen.
In den Gassen winden sich die gestapelten Häuser zu Plätzen und Plateaus mit Bergsicht. Restaurants, Terrassenbars und Läden, die Flickenteppiche, Korbtaschen, Marmeladen und Honig verkaufen, reihen sich aneinander. Vor den Türen wedeln gemusterte Tücher die Fliegen fort. Hortensienkübel und Geranientöpfe betupfen die schlichten Fassaden mit Farbe. Weinranken fallen von den Balkonen herab.
Reich durch Seidenproduktion
Die Kirche ist im Dorf geblieben, der Turm wie eh und je das höchste Gebäude. Die Dörfer sind geblieben, wie sie waren. Ein Stück Vergangenheit in der Weite der Sierra Nevada. Per Gemeinschaftsbeschluss verzichten die Bewohner auf moderne Bauten. Die überlieferte Bauweise aus Naturstein, Holz, Schiefer, Lehm und Stroh wird gepflegt. Das gefällt den Besuchern. Selbst die Kirche hat sich auf sie eingestellt. Die Glocke gewährt Nachtruhe und läutet gästefreundlich erst ab 9 Uhr morgens wieder.
Maurischen Spuren begegnet man überall. Zu ihrer Zeit perfektionierten sie das grüne Paradies durch Terrassenwirtschaft und ein ausgeklügeltes Wassersystem, was die Landschaft bis heute prägt. Im Nationalpark kann man sie sich auf gut markierten Wanderwegen (senderos) erwandern; sie sind nach Schwierigkeit und Länge in drei Kategorien unterteilt. Capileira ist ein guter Ausgangspunkt dafür. In der baumlosen Region des 3.471 Meter hohen Mulhacín findet der Wanderer keinen Schatten mehr. Auf 1.500 Metern wie im benachbarten Trevélez-Tal schützen dagegen Wälder aus Steineichen, Edelkastanien, von den Mauren importierte Mandel- und Feigenbäume vor der Sonne. Maulbeerbäume erinnern an die Seidenproduktion, die die Alpujarras einmal reich machte. Sanft rauscht der Fluss Trevélez, die Wasserkanäle plätschern nach festem Plan und bewässern Felder mit Tomaten, Paprika und Wein. Schafe und Ziegen weiden in Flussnähe. Der Sendero führt auf ein luftiges Plateau mit einer verlassenen Arbeitshütte und Dreschplatz davor. Der Mensch drosch das Getreide, der Wind trennte das Korn vom Stroh. Hier liege der Anfang unseres Brotes, sagen die Leute.
Das Dorf Trevélez ist spanischen Feinschmeckern ein Begriff, weil es einen delikaten Serranoschinken (jamón serrano) produziert. Die Schweine werden woanders gezüchtet. Doch zum Trocknen kommen die Keulen in das kühle trockene Mikroklima, das die Qualität bestimmt. Außer Salz wird nichts hinzugefügt. Seit 1862 tragen die Schinken ein königliches Siegel, das die moderne geschützte geographische Herkunftsbezeichnung (Denominación Específica de Qualidad) quasi vorweggenommen hat. An jeder Ecke kann man sie verkosten.
Dem im Sommer noch oft schneebedeckten Mulhacín ist man hier noch ein Stückchen näher. Der Legende nach soll Abu I-Hasan Ali, Herrscher der Nasriden, oben auf dem Gipfel bestattet worden sein, weil er möglichst weit weg von den Christen sein wollte, die sein Reich bedrohten. Mit Granada fiel 1492 die letzte muslimische Bastion auf der Iberischen Halbinsel. Damit ging eine tolerante fortschrittliche Ära zu Ende.
Auf dem Weg zurück nach Granada kommt man auf einer Passhöhe zum Ort Suspiro del moro, dem Seufzer des Mauren. Hier soll der letzte Emir Boabdil sich noch einmal nach seiner verlorenen Burg Alhambra umgesehen und geweint haben, bevor er das sie für immer verließ.