Mit formschönen Objekten aus Edelstahl hat Alessi Weltmärkte erobert und Designgeschichte geschrieben. Die Erfolgsstory begann vor 100 Jahren – mit einer Firma für Haushaltswaren am oberitalienischen Ortasee.
Mailand, New York, Tokio – in zigtausenden Küchen auf der ganzen Welt hat das bizarre Objekt einen prominenten Platz. Eine stilisierte Rakete in Miniaturformat mag man mit etwas Fantasie darin erkennen. Oder einen überdimensionalen Tropfen, der – verkehrt herum – von drei possierlich gespreizten Beinen getragen wird. Tatsächlich handelt es sich um eine Zitronenpresse – das weiß jeder, der sich ein wenig auskennt in der Welt der schönen Dinge. Der französische Architekt und Designer Philippe Starck hat sie für den italienischen Haushaltswarenhersteller Alessi kreiert. Seit über 30 Jahren hat die Nobelmarke das aus Gussaluminium gefertigte Objekt „Juicy Salif" im Programm. Wer diese Zitruspresse kauft, dem geht es nicht um Funktionalität. Zumindest steht sie nicht an erster Stelle. Die Presse, ihr aktueller Preis liegt bei circa 75 Euro, hat weder ein Auffangbehältnis für den Saft noch ein Sieb für die Kerne. Zudem sind ihre spitz auslaufenden Beine nicht gerade sanft zur Arbeitsfläche. Sei’s drum. „Juicy Salif" ist Kultobjekt und Statement zugleich: Hier hat „0815" keine Chance, hier wird gehobener Lifestyle gepflegt.
Wurzeln am Nordrand des Ortasees
Edelstahl-Körbe im Drahtdesign und ein zylindrischer Wasserkessel, bei dem ein Kunststoffvogel als Flöte dient, gehören ebenfalls zu den Ikonen aus dem Hause Alessi. Dass die Objekte auch 40, 50 oder 60 Jahre nach ihrer Markteinführung noch stylisch wirken und das Gros der Konkurrenzprodukte vergleichsweise bieder erscheinen lassen – das ist die hohe Kunst und gewissermaßen die DNA der italienischen Traumfabrik. Seit über einem halben Jahrhundert schon arbeitet sie mit namhaften Designern. Die Liste der Kreativen, die eines oder mehrere Objekte für Alessi entworfen haben, liest sich wie ein „Who’s Who" der Architektur und des Industriedesigns. Achille Castiglioni, Michael Graves, David Chipperfield, Massimiliano Fuksas, Zaha Hadid, Toyo Ito, Jean Nouvel, der eingangs erwähnte Philippe Starck – um nur einige der Berühmtesten zu nennen.
Heute produziert und verkauft Alessi an verschiedenen Standorten rund um den Globus. Seine Wurzeln aber hat das Unternehmen im piemontesischen Städtchen Omegna, am nördlichen Ende des Ortasees – unweit des Lago Maggiore. Hier, am Fuße der Südalpen, siedelten sich schon im 17. Jahrhundert zahlreiche Metallwarenhersteller an. Metallgewinnung und Veredlung war lange Zeit wichtigster Wirtschaftszweig der Region. 1921 kaufte Giovanni Alessi ein Stück Land in Omegna und brachte eine Firma für Haushaltswaren aus Metall an den Start. Der gelernte Metalldreher legte großen Wert auf sorgsame Verarbeitung. Neue Techniken der Vernickelung und Versilberung brachten seine Produkte auf ein bis dahin unbekanntes Qualitätsniveau. Schnell machte sich die kleine Firma einen Namen. Ein Sortiment gab es in den frühen Jahren noch nicht. Alessi produzierte, was seine Kunden in Auftrag gaben.
Als Sohn Carlo in den Betrieb einstieg, schlug die Geburtsstunde des Alessi-Designs. Der junge gelernte Industriedesigner entwarf Metallwaren mit Wiedererkennungswert. Sein Tee- und Kaffeeservice aus poliertem Alpaka, einem silberfarbenen Metall aus einer Kupfer-Nickel-Zink-Legierung, wurde 1929 zum Aushängeschild der Firma. In den Weltkriegsjahren aber brach der Umsatz mit hochwertigen Haushaltswaren ein. Alessi brachte sein Unternehmen mit der Produktion von Metallsternen für Uniformen und Kleinteilen für den Flugzeugbau über die Runden.
Zusammenarbeit mit namhaften Designern und Architekten
Nach dem Krieg kehrt das Unternehmen vom Ortasee zur Haushaltswarenherstellung zurück. Allerdings unter anderen Vorzeichen. Nun wird auf industrielle Massenproduktion umgestellt, um die Produktionskosten zu senken und konkurrenzfähig zu sein. Die Idee, externe Designer für die Gestaltung von Alessi-Produkten unter Vertrag zu nehmen, bringt das Unternehmen ab 1955 auf einen neuen Kurs. Mit namhaften Industriedesignern und Architekten entwickelt das Unternehmen zunächst hauptsächlich Servierplatten und andere Gebrauchswaren für die Hotellerie. Statt auf Neusilber, Messing und Nickel setzt Alessi nun auf Edelstahl. Die jungen Architekten Carlo Mazzeri und Luigi Massoni prägen in diesen Jahren den Look der Alessi-Objekte. 1957 entwirft das Duo den Cocktailshaker 870. Bis heute ist er unverändert im Sortiment.
Eine neue Ära beginnt, als Alberto Alessi, Enkel des Firmengründers, in den 1970er-Jahren das Ruder übernimmt. Design muss frei sein, so Albertos Credo, der mit einem Jura-Examen gerade von der Uni kommt. Ein frischer Wind bricht in jenen Jahren gesellschaftliche Konventionen auf, und der junge Alessi will auch Alltagsgegenstände aus ihrem starren Korsett befreien. Eine junge, freche Formensprache für Wasserkessel, Pfeffermühlen, Korkenzieher und Co. schwebt ihm vor. Das geht Großvater und Firmengründer Giovanni entschieden zu weit. Doch allen großväterlichen Bedenken zum Trotz wird die Haushaltswaren-Schmiede unter der Ägide des Enkels tatsächlich zur Traumfabrik und zum Inbegriff für Lifestyle „Made in Italy". 1979 hält mit dem Espressokocher 9090 das erste Objekt aus dem Hause Alessi Einzug in die Sammlung des MoMA in New York. Designer ist Richard Sapper, 1932 in München geboren. Sapper war für Mercedes Benz tätig, bevor er 1958 nach Mailand umsiedelte und mit dem berühmten Architekten Gio Ponti zusammenarbeitete.
Ein kurzer Ausflug in den Automobilsektor
Auch mit weiteren Espressokochern heimste Alessi Design-Awards ein, mit Spott hingegen reagierte die Fachwelt in den 90ern auf „Merdolino", eine Toilettenbürste in Form einer minimalistischen Pflanze im Blumentopf, mit der eine Kunststofflinie Einzug ins Produktportfolio hielt. Doch der Klo-Schrubber wurde ein Verkaufsschlager – und ist es bis heute.
Nach der Jahrtausendwende stieß die Designschmiede in neue Produktfelder vor. Für Fiat kreierte sie den „Fiat Panda Alessi", der 2004 zunächst bei der Mailänder Design-Show Triennale und dann beim Pariser Autosalon für Aufsehen sorgte. Damit war der Ausflug in den Automobilsektor aber schon beendet. In Kooperation mit einer belgischen Firma produzierte Heimtextilien hingegen ergänzen bis heute die Produktpalette.
Zum 100. Geburtstag gönnt sich die Marke etwas ganz Besonderes. Ein ganzes Jahr lang – noch bis April 2022 bringt Alessi Monat für Monat ein Objekt oder eine Produktserie aus seinem Archiv in limitierter Auflage auf den Markt. Produziert werden bisher nicht realisierte Entwürfe, aber auch Alessi-Klassiker in abgewandelter Form. Weit oben in der Gunst der Sammler dürfte die Proust-Vase von Alessandro Mendini rangieren, ein Objekt, bei dem die Grenzen zwischen Design und Kunst verschwimmen. Mendini, Architekt und in den 80ern einer der großen Erneuerer des italienischen Designs, hatte sich bei einer Reise auf den Spuren des Schriftstellers Marcel Proust und von der Malerei der Pariser Pointillisten, inspirieren lassen. Für die auf 999 Stück limitierte Edition wurde das mehrschichtige Tupfenmuster mit Echt-Gold veredelt. Das Ergebnis kann man als Synthese der Philosophie des Firmenchefs ansehen. Denn Design ist für Alberto Alessi eine von Grund auf künstlerische und poetische Disziplin, die Transzendenz in unsere Konsumgesellschaft bringt und die durch Schönheit zu den Seelen der Menschen spricht.