Symbolisch wirkte das Schaulaufen bei der Met Gala im Metropolitan Museum in New York, als Serena Williams, Naomi Osaka und Emma Raducanu in märchenhaften Roben auf dem Roten Teppich einander ablösten, kurz nach den US Open: Im Grand-Slam-Jahr 2021 stiegen neue Stars auf, andere hatten zu kämpfen.
Hoffentlich wird da nicht wieder eine junge Top-Athletin so sehr hochgejubelt, dass sie dem Druck des Ruhms kaum standhalten kann, wie es Naomi Osaka nach drei Grand-Slam-Siegen erging. Unter persönlichen Bedingungen, in denen nur scheinbar alles ganz einfach war.
Ein Satz und ein Bild widersprechen derartigen Sorgen bei Emma Raducanu vorerst: „Ich liebe jetzt einfach nur mein Leben", sagte die junge Frau, die sich eineinhalb Jahre auf ihr glänzendes Abitur konzentriert hatte und dennoch drei Monate nach dem A-Level im Tennis so bei sich war, dass sie alle Gegnerinnen besiegte.
Beim Sightseeing im Big Apple entdeckte die junge US-Open-Siegerin in den Tagen nach ihrem Finalsieg ein riesiges digitales Bild von ihrem Erfolg, sah sich selbst fassungslos strahlen auf dem größten Tennisplatz der Welt, Gesicht und Hände zum Himmel gestreckt, aufgenommen unmittelbar nach ihrem Triumph. Im Social-Media-Video zeigt die Britin lachend auf ihr Hauswand-Bild und schrieb dazu auf Instagram: „Ich hätte nie gedacht, dass ich so etwas zu sehen bekäme… Die coolste Sache."
Emma Raducanu ist gerade mal 18 Jahre alt, nur wenig älter als Maria Sharapova war, als sie mit 17 Jahren vor 17 Jahren in Wimbledon im Finale gegen Serena Williams gewann. Jetzt hat die Russin eine Nachfolgerin mit multikulturellem Background, der deshalb weltweit noch größere Möglichkeiten zum Geld-Verdienen mit ihrem Sportlerruhm vorausgesagt werden. Von bis zu einer Milliarde Dollar ist die Rede. Ihren Namen soll Raducanu bereits als Marke eingetragen haben, um via Kleidung, Sportartikel oder Süßigkeiten vor allem selbst zu profitieren.
Damit könnte Emma sogar die 23-jährige Naomi Osaka überholen, die 2020 zur bestverdienenden Sportlerin aufgestiegen war. Die Finanz-Beratung für Jungstars ist deutlich professioneller geworden, seit den Zeiten, in denen Boris Becker mit 17 Jahren in Wimbledon gewann. Emmas Grand-Slam-Preisgeld von 2,5 Millionen US-Dollar vervielfacht den bisherigen Verdienst der 18-Jährigen. Legende Martina Navratilova ließ auf Twitter ihrer Begeisterung freien Lauf: „Ein Star ist geboren". Und sie attestierte dem Jungstar: „Ihr Spiel hat keine Lücken. Das ist sehr ungewöhnlich in diesem Alter".
Die gebürtige Kanadierin Raducanu, deren Eltern in der Finanzbranche arbeiten, hatte bis zu den US Open so gut wie keine Turniere auf der Profitour bestritten und erlebt. Dennoch spielte sich die mathematisch Hochbegabte, die sich beim Bummel auch die Börse anschaute, mit lockerer Selbstverständlichkeit bis zum Pokalgewinn im letzten Grand Slam eines schillernden Tennis-Jahres.
„Man kann alles schaffen, wenn man an sich glaubt", erklärte die gerade erst Volljährige ihren Erfolg. Sogar einen Major-Sieg aus dem Stegreif, ohne Satzverlust in insgesamt zehn Matches. Bereits zum vierten Mal in Folge ist eine U-25-Spielerin amtierende Siegerin des herbstlichen New Yorker Grand Slams, der heuer auf sehr rutschigem Hartplatz gespielt wurde.
Vor der jungen Britin hatte seit Beginn der Offenen Profi-Ära im Jahr 1968 niemand den Siegerpokal bei einem der vier Mega-Turniere in die Höhe recken können, der sich über die Qualifikation ins Hauptfeld gespielt hatte. Weder Spielerin noch Spieler, was in der Natur der Sache liegt. Denn Qualifikanten geht üblicherweise spätestens in der dritten Woche, in der sie bei einem Grand-Slam-Wettbewerb ein Match nach dem anderen ausfechten, physisch die Kondition oder mental die Luft aus.
So wie bei ihrem Majors-Debüt in England im Juni auch Emma aus London Borough of Bromley, als ihr im Achtelfinale von Wimbledon im zweiten Satz nur noch der Abbruch der Partie blieb: Weil ihr schwindelig wurde und sie Atemnot bekam. Das schrieb die Abiturientin zumindest damals auf Instagram, nachdem sie von Platz 338 der Weltrangliste kommend, in London für Überraschungen sorgte, die an einen 17-jährigen Deutschen vor 36 Jahren erinnerten.
Tennis-Hype auf der Insel
Ganz so weit wie Becker kam Raducanu bei ihrer Premiere in Wimbledon nicht: Die Begeisterung ihrer Landsleute, der tennisbegeisterten Engländer, droht ein hoffnungsvolles Talent leicht zu erdrücken. Davon weiß selbst Andy Murray zu berichten, der für die letztliche Erlösung der Briten vom Elend, nie bei ihrem eigenen Prestigeturnier zu gewinnen, zum Ritter gekürt wurde. Doch Raducanu, die viele große Talente hat, macht sich mittlerweile frei vom Druck, arbeitet an Überraschungs-Manövern auf dem Court und sagt: „Ich habe noch immer andere Optionen, aber gerade ist es 100 Prozent Tennis."
Die Queen hat Emma bereits im Blick. Denn die Britin, deren Eltern chinesische und rumänische Wurzeln haben, holte den ersten Titel bei einem Major für eine Spielerin aus Großbritannien nach 44 Jahren. Der Tennis-Hype auf der Insel ließ nicht auf sich warten. „Ich habe keinen Zweifel daran, dass ihre herausragende Leistung und die ihrer Gegnerin Leylah Fernandez die nächste Generation Tennisspieler inspirieren wird", schrieb Elizabeth II., Königin des United Kingdom, in ihrer Gratulation. „Das ist ein beeindruckender Erfolg in einem so jungen Alter und ein Beleg für harte Arbeit und Einsatz."
Was sicherlich auch der 95-Jährigen nicht entgangen sein wird, die in ihren fast 70 Jahren als Königin die Entwicklungen und Krönungen neuer Tennisstars im Londoner Vorort Wimbledon aus nächster Nähe miterlebt hat: Der Tennisboom, der für Deutschland mit Sascha Zverevs Olympiasieg in Tokio seinen Ausgang nahm, geht international weiter. Mit mehreren „Tenniswundern" aus dem Feld der Teenager und Qualifikanten, die beim letzten Grand Slam des Jahres sichtbar wurden.
Bleiben wir deshalb in New York, wo der Indian Summer feine, goldene Lichtakzente in eine neue, goldene Tennis-Ära setzte. „Sweet Caroline", den alten Neil-Diamond-Song, der zur Hymne der Briten für ihre Mannschaft während der Fußball-EM im Sommer wurde, spielte der DJ in New York, während Emma über ihren Sieg jubelte. Ihre Fans vor Ort sangen mit, und die junge Frau fahndete nach dem komplizierten Weg, der sie zu ihrem Team leitete, das sie auf Platz 23 der Weltrangliste geführt hatte. Ihre Eltern feierten derweil, pandemiebedingt, im Londoner Süden vor dem Fernseher.
Emmas Finalgegnerin Leylah Fernandez, die während der US Open ihren 19. Geburtstag zelebrierte, gehört zu den (fast noch) 18-Jährigen, die beim letzten Grand Slam des Jahres den etablierten Sport mit jugendlichem Optimismus garnierten. Erstmals, seit es die Majors auf der Profi-Tour gibt, haben zwei ungesetzte Spielerinnen das Finale bestritten, zwei Teenager. Die Kanadierin Fernandez dürfte zusammen mit Raducanu in den kommenden Jahren öfter für sehenswerte, starke Auftritte im Damen-Tennis sorgen. Ihre Stärke sind Kampfpartien, über die sie die zweimalige US-Open-Siegerin Naomi Osaka, die dreifache Grand-Slam-Siegerin Angelique Kerber, Elina Monfils und die Weltranglisten-Zweite Aryna Sabalenka aus dem Turnier warf.
Kudla spielt sich in den Vordergrund
Fernandez erzählte davon, dass sie bis heute einer ehemaligen Lehrerin beweisen wolle, dass sie alles, wovon sie geträumt habe, erreichen könne. Die Pädagogin habe ihr geraten, mit dem Tennis aufzuhören: „Du schaffst es nicht, fokussiere Dich auf die Schule." Den Zuschauern sagte die 19-jährige US-Open-Finalistin, trotz ihrer Enttäuschung nach ihrer Niederlage im Endspiel, anlässlich des Jahrestages von 9/11: „Ich hoffe, ich kann so stark sein, wie Ihr New Yorker es in den vergangenen 20 Jahren wart."
Der Spanier Carlos Alcaraz ist ein weiterer 18-Jähriger, der in New York zum Publikumsliebling mutierte, aus der Qualifikation rekordmäßig weit kam und ähnlich fokussiert wie Nadal ist. Mit einer Geste an die Schläfe – symbolisch für: „alles Köpfchen" – wirkt er fast schon ein wenig arrogant. In der dritten Runde machte der Spanier dem Weltranglistendritten Stefanos Tsitsipas im wohl wildesten Match des Jahresabschluss-Grand-Slams, wenn nicht des Tennis-Jahres, in vier Stunden und sieben Minuten den Garaus. Und das nach einem 0:6 im vierten Satz. Tsitsipas: „Es war unglaublich. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der den Ball so hart schlägt. Ich musste mein Spiel an diesen Stil erst anpassen."
Durch seine gnadenlosen Schläge neigt Alcaraz zu Fehlern. Das bedeutete, bessere Chancen für den deutschen Qualifikanten und Selfmade-Man Peter Gojowczyk. Der Münchner wehrte sich im Achtelfinale der Qualifikanten nicht nur, sondern führte auch Regie. Geschwächt durch eine Oberschenkelverletzung unterlag er in fünf Sätzen.
Aus deutscher Sicht waren wegen des 32-jährigen Gojowczyk und Oscar Otte sehr positive Statistik-Bereicherungen zu vermelden, die den Tennisboom im Land weiter ankurbeln dürften: Seit die ATP-Datenbank auch die Qualifikanten vollständig erfasst, hatten sich noch nie zwei Profis des Deutschen Tennis Bundes parallel bei einem Grand Slam erst ins Hauptfeld und dann ins Achtelfinale vorgekämpft.
Beide waren allein angereist, spielten sich wechselseitig ein, pushten einander. Der Kölner Otte, der mit Weltranglistenplatz 144 gemeldet war, freute sich nach der dritten Runde und seinem Sieg über den US-Amerikaner Denis Kudla: „Das war das beste Match meines Lebens, ich habe fast keine Fehler gemacht und es ist voll in meine Richtung gelaufen."
Sogar dem Weltranglisten-Sechsten und Wimbledon-Finalisten Matteo Berrettini machte Oscar das Leben schwer, wirkte im Achtelfinale gleichauf. Doch im vierten Satz geriet Otte nach einem Überkopfball ins Straucheln, landete auf seiner rechten Schlaghand, spielte mit Handicap weiter. Stürze zuvor ins Netz und unter eine scharfkantige Bank hatte der Kölner unbeschadet überstanden. „Das Ende war natürlich nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte", sagte der 28-Jährige nach dem schmerzhaft verlorenen Match. Was ihn mit den noch erfolgreicheren Damen unter den Qualifikanten einte: ein Riesenapplaus vom Publikum für unvergessliche Leistungen.