Nachdem der Deutsche Ringer-Bund in Tokio mit drei Medaillengewinnen überrascht und damit das Soll weit übertroffen hatte, sind die Erwartungen für die anstehende WM in Oslo nicht allzu hoch angesiedelt. Von den sieben deutschen Olympia-Startern hat nur noch eine Athletin gemeldet.
Nach Olympia ist vor der WM. Das gilt jedenfalls für die internationale Ringer-Elite, die sich schon zwei Monate nach Tokio vom 2. bis 10. Oktober in Oslo ein Stelldichein gibt, um ihre Champions in insgesamt 30 Gewichtsklassen zu ermitteln. Es ist ein Novum in der Ringer-Geschichte, weil noch niemals in ein und demselben Jahr auf den Matten um olympisches und WM-Metall gekämpft worden war. Was natürlich der Corona-bedingten Verschiebung der Wettbewerbe in Tokio von 2020 auf 2021 geschuldet war. Wobei die Männer in Oslo jeweils zehn Titelträger in den Disziplinen Griechisch-Römisch und Freistil, die Damen nur in der klassischen Kampfsportart ermitteln werden. Kaum einer der Wrestle-Top-Sportler lässt sich offenbar die Chance in Oslo entgehen, seine persönliche Medaillensammlung zu erweitern oder Revanche für ein Verpassen des Podiums bei den Olympischen Spielen zu nehmen. Nicht weniger als 30 Medaillengewinner von Tokio haben für die WM gemeldet, angeführt von Stars der Szene wie dem Russen Abdulrashid Sadulaev (Freistil bis 97 Kilogramm) oder dem US-Amerikaner David Morris Taylor (Freistil bis 86 Kilogramm), denen sich in Oslo die einmalige Gelegenheit bietet, nach der Goldmedaille in Tokio auch die goldene WM-Plakette in der gleichen Saison zu erringen. Ein Kunststück, das auch dem Iraner Mohammadali Abdolhamid Gerai (Griechisch-Römisch bis 67 Kilogramm), dem Russen Musa Evloev (Griechisch-Römisch bis 97 Kilogramm) und bei den Damen der US-Amerikanerin Tamyra Mariama Stock-Mensah (bis 68 Kilogramm) gelingen könnte.
Der Deutsche Ringer-Bund DRB wird die Reise gen Norwegen mit einem 22-köpfigen Team antreten. Zahlenmäßig mithin weitaus größer als das Tokio-Aufgebot, weil sich für die Olympischen Spiele wegen der harten Qualifikationsausscheidungen gerade mal sieben deutsche Ringer und Ringerinnen ihr Startrecht hatten erringen können. Bei den Herren treten fünf Sportler im Freistil an (mit dem gesamten Körper als potenzieller Angriffsfläche), acht im griechisch-römischen Stil (Griffe und Techniken nur oberhalb der Gürtellinie erlaubt). Wobei die Disziplin Freistil schon seit Jahren so etwas wie die Achillesferse des DRB ist und daher auch in Oslo kaum positive Überraschungen zu erwarten sein dürften.
Schub durch Erfolge bei Olympia
Beim DRB war nach Tokio alles heiter Sonnenschein. Denn das siebenköpfige Mini-Team konnte sage und schreibe drei Medaillen erringen. Ein Schnitt, von dem andere deutsche Sportarten wie das Schwimmen nicht mal mehr zu träumen wagen können. In Tokio konnte der DRB sein bestes Ergebnis seit 25 Jahren erzielen, zuletzt war man 1976 in Montreal mit vier Medaillen noch erfolgreicher gewesen, nur den ewigen Rekord von Berlin 1936 mit gleich siebenmal Edelmetall wird man wohl niemals mehr attackieren können. DRB-Präsident Manfred Werner konnte denn auch sein Glück kaum fassen: „Natürlich habe ich mir die Kämpfe live mitten in der Nacht angeschaut. Und schon nach der ersten Medaille stand das Telefon nicht mehr still, nach der dritten war es der Wahnsinn. Wir hatten uns schon das eine oder andere ausgerechnet, die Hoffnungen waren groß, aber dass es so klasse wird, macht uns natürlich überglücklich." Ins gleiche Triumph-Horn hatte DRB-Sportdirektor Jannis Zamanduridis geblasen: „Einmal Gold durch Aline Focken, zweimal Bronze durch Frank Stäbler und Denis Kudla sowie drei Finalplatzierungen (Platz 8) durch Anne Schell, Eduard Popp und Gennadij Gudinovic und die nur knappe 1:1-Niederlage von Etienne Kinsinger gegen den späteren Bronzemedaillengewinner sind eine stolze Erfolgsbilanz. Das ist überragend." Man habe sich auf das Level solcher Ringer-Super-Nationen wie Türkei, Aserbaidschan oder Belarus katapultiert. Noch wichtiger sei es jedoch gewesen, dass endlich auch mal wieder die deutschen Medien auf die Randsportart Ringen aufmerksam geworden seien. „Das alles ist eine 1-A-Werbung für unseren Sport", so Manfred Werner, „Ich hoffe, dass wir damit viele junge Menschen begeistern konnten. Wir müssen nun so konsequent und teamorientiert weitermachen wie bisher, immer am Ball bleiben. Dann hat Ringen eine gute Zukunft."
Stichwort „Zukunft": Die sah für den internationalen Ringsport vor gar nicht so langer Zeit alles andere als rosig aus. Die olympische Kerndisziplin, die seit 1896 mit Ausnahme des Jahres 1900 immer und ununterbrochen fester Bestandteil sämtlicher Spiele war, stand Anfang 2013 kurz vor dem Aus. Als das IOC den Beschluss gefasst hatte, Ringen ab 2020 komplett aus dem olympischen Wettbewerbsprogramm zu streichen. Weil dessen Präsentation und dessen ebenso kompliziert wie uneinheitliches Regelwerk als nicht mehr zeitgemäß angesehen wurde. Nach zahlreichen Protesten hatte das IOC seine Entscheidung noch im gleichen Jahr revidiert, allerdings hatte der Ringerweltverband United World Wrestling UWW eine Zusage zur grundlegenden Erneuerung in nahezu sämtlichen Bereichen abgeben müssen. Es wurden seitdem durchaus bemerkenswerte Fortschritte erzielt. Aber das Regelwerk ist für Außenstehende, die nur bei Olympischen Spielen die Ringer-Wettkämpfe verfolgen, nach wie vor alles andere als leicht verständlich. Wenn es eben nicht zum entscheidenden Schulterwurf kommt, dem eigentlichen Ziel jeden Kampfes, dann kann das Mattengeschehen für den nicht in die Materie eingeweihten TV-Zuschauer schon ein ziemlich dröges Geschiebe mit vergleichsweise wenig Action sein. Wie es das hiesige Publikum bei den sich mehrheitlich auf die griechisch-römischen Kämpfe (wegen der nur in dieser Disziplin starken deutschen Teilnehmer) konzentrierenden Übertragungen der heimischen TV-Sender erleben konnte. Beim Freistil geht es schon anders zur Sache, weil da beispielsweise auch Beinangriffe erlaubt sind.
Eigentlich müsste der DRB mit breit geschwellter Brust zu den WM-Wettkämpfen in der neuen, hochmodernen, 5.300 Zuschauer fassenden und Corona-Hygienemaßnahmen effizient erleichternden Osloer Jordal Amfi-Arena antreten. Doch leider ist das olympische Hochgefühl schnell verpufft. Weil von den sieben Sportlern, die in Tokio die deutschen Ringerfahnen hochgehalten hatten, in Oslo nur noch die WM-Dritte von 2019 Anna Carmen Schell (in der Gewichtsklasse bis 72 Kilogramm) an den Start gehen wird und so ziemlich die einzige realistische WM-Medaillen-Hoffnung des DRB sein dürfte. Cleverer Weise geht sie diesmal der US-amerikanischen Tokio-Gold-Gewinnerin Tamyra Stock-Mensah aus dem Weg, die in der Gewichtsklasse bis 68 Kilogramm antreten wird. Von den drei deutschen mit olympischem Edelmetall belohnten Heroen haben Aline Rotter-Focken und Frank Stäbler ihre lange und erfolgreiche Karriere nach Tokio beendet. Aline Rotter-Focken bleibt dem DRB allerdings in ihrer neuen Funktion als Leistungssport-Koordinatorin erhalten. Und soll außerdem künftig als TV-Expertin das Ringen über die Fangemeinde der in der Saison 2021/2022 in vier Staffeln mit 26 Mannschaften agierenden Ringer-Bundesliga und ihrer lokalen Hochburgen hinaus hierzulande weiter populärer machen.
Stäbler beendete seine Karriere
Für Oslo wird in hiesigen Expertenkreisen wenig Positives von den fünf für die Freistil-Disziplin gemeldeten deutschen Ringern Horst Justin Lehr (bis 57 Kilogramm), Nico Megerle (bis 61 Kilogramm), Shamil Ustaev (bis 70 Kilogramm), Osman Kubilay Cakici (bis 74 Kilogramm) und Ahmed Ruslanovic Dudarov (bis 86 Kilogramm) erwartet. Etwas besser sieht es im Griechisch-Römischen aus, allerdings werden Witalis Lazovski (bis 67 Kilogramm), Pascal Eisele (bis 87 Kilogramm), Peter Öhler (bis 97 Kilogramm) oder Jello Krahmer (bis 130 Kilogramm) nur passable Platzierungschancen bei gehörig viel Losglück zugetraut. Das deutsche Aufgebot im klassischen Stil wird komplettiert durch Christopher Josef Kraemer (bis 63 Kilogramm), Maximilian Andreas Schwabe (bis 72 Kilogramm), Roland Schwarz (bis 77 Kilogramm) und Hannes Wagner (bis 82 Kilogramm). Bei den Damen mit Anna Schell an der Spitze wollen Lisa Ersel (bis 50 Kilogramm), Annika Wendle (bis 52 Kilogramm), Nina Hemmer (bis 55 Kilogramm), Elena Brugger (bis 75 Kilogramm), Sandra Paruszewski (bis 59 Kilogramm), Luisa Niemesch (bis 62 Kilogramm), Eyleen Sewina (bis 65 Kilogramm) und Francy Rädelt (bis 76 Kilogramm) versuchen, in die großen Fußstapfen von Aline Rotter-Focken, der ersten deutschen Ringer-Olympiasiegerin und Weltmeisterin von 2014, zu treten.
Wer die WM nicht nur durch die deutsche Brille sehen möchte, darf sich in Oslo auf Ausnahmekönner wie den US-Amerikaner Jordan Ernest Burroughs (Freistil bis 79 Kilogramm), den Iraner Hassan Yazdani (Freistil bis 86 Kilogramm), den US-Amerikaner Kyle Frederick Snyder (Freistil bis 97 Kilogramm) oder den Türken Taha Akgul (Freistil bis 125 Kilogramm) freuen.