Die Erwartungen sind mindestens so groß wie die Herausforderungen. Wirtschaft, Gewerkschaften und Kommunen haben massive Forderungen an die neue Bundesregierung, um den Standort Deutschland fit und attraktiv zu machen.
Wirtschaftsverbände sind gemeinhin professionell organisiert, um ihre Interessen zu artikulieren. In Wahlzeiten haben sie Hochkonjunktur. Kein Verband, keine Vereinigung, keine Kammer, die nicht vor der Wahl mit „Wahlprüfsteinen" formuliert hätte, was eine neue Regierung anpacken, leisten und klären muss. Dabei ist die Zeit nach der Wahl aus deren Sicht noch wichtiger. Waren vor der Wahl die großen Themensetzungen von Bedeutung, geht es jetzt darum, in laufenden Koalitionsverhandlungen auf Konkretes hinzuweisen und dafür zu werben, dass dazu ein Satz, besser noch ein ganzer Abschnitt, im Koalitionsvertrag beschrieben wird. Für die Wirtschaft und die Unternehmen ist das auch in der Hinsicht von ganz praktischer Bedeutung, weil sich strategische Investitionsentscheidungen selten im kurzatmigen Rahmen von Legislaturperioden bewegen. Da will und muss man schon wissen, wie Politik die Rahmenbedingungen gestalten will.
Dabei fängt das Problem schon damit an, dass es nicht „die Wirtschaft" als ein System gibt, das mit einem einigermaßen klaren Forderungskatalog in Richtung Politik auftritt. Und dass zu diesem Bereich nicht nur Unternehmen und Konzerne, sondern eben auch die Arbeitnehmerseite mit ihren Gewerkschaften gehört. Klassische Bilder, wonach die Unternehmen eher eine Nähe zu Liberalen und zur Union hätten, Arbeitnehmerinteressen zur Sozialdemokratie, und Interessen, die für andere Wirtschaftsformen eintreten, sich eher bei noch anderen Parteien besser aufgehoben fühlen, haben sich längst aufgelöst. Was einerseits daran liegt, dass es eine Reihe von Megatrends an Herausforderungen gibt, an denen keiner vorbeikommt, andererseits aber auch daran, wie sich die Parteien programmatisch (und praktisch) entwickelt haben. Das ändert zwar zunächst nichts an gewissen Grundaffinitäten und Prioritäten.
„Brauchen Politik, die den Turbo anschaltet"
Aber weder Jamaika noch eine Ampel würden den Untergang der heimischen Wirtschaft bedeuten.
In einem Punkt ist sich „die Wirtschaft" aber unsiono einig: „Wir hoffen, dass die Parteien zügig und zielorientiert eine stabile Regierung verhandeln". So heißt es praktisch wortgleich in Erklärungen der Wirtschaftskammern von Kiel bis zum Bodensee. Auch die Überschriften in den Forderungskatalogen vor den jeweiligen Branchen- oder regionalspezifischen Besonderheiten sind quer durch die Republik ziemlich gleich. Steuern, Abgaben und Bürokratie sind als Themen ohnehin immer gesetzt.
„Wir brauchen eine Politik, die den Turbo anschaltet und keine Schlafwagenpolitik", heißt das Leitmotiv eines Neun-Punkte-Plans der Arbeitgeberverbände, was im Kern auch ein Urteil über die Arbeit der letzten Jahre ist. Im Kern brauche es eine „mutige Zukunftsagenda 2030" mit Antworten auf die Herausforderungen durch Digitalisierung, Dekarbonisierung und Demografie.
Im Wahlkampf hatten vor allem die beiden ersten dieser drei großen „G" eine Rolle gespielt, wobei das Schlagwort von der Digitalisierung und fast allen seinen Facetten keinen Parteienstreit ausgelöst hat. Egal wer am Ende mit wem koaliert, ist unstrittig, dass das Land den unverkennbaren Rückstand schnellstens aufholen muss. Da wird immer mal wieder ein eigenes Digitalministerium ins Gespräch gebracht, wobei einigermaßen Einigkeit darin besteht, dass es sich dabei eher um einen polit-symbolischen Akt handeln würde.
Beim Stichwort Dekarbonisierung, hinter dem sich schlicht die Frage des Klimaschutzes verbirgt, sind große Teile der Industrie schon sehr viel weiter, als es in der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Letztlich geht es aber an allen Baustellen der industriellen Produktion, von Stahl über Chemie bis hin zur Mobilität, darum, zumindest mittelfristig verlässliche Rahmenbedingungen zu haben, sowie um (finanzielle) Flankierung der notwendigen Investitionen. Dazu gehören aber auch Neuerungen, die praktisch die gesamte Infrastruktur erfasst: Stromtrassen, Wasserstoff-Pipelines, ein Tankstellennetz, Energieerzeugung und nicht zuletzt eine Digitalisierung des Verkehrs (Autonomes Fahren). Das verschlingt nicht nur Milliardensummen, es bedeutet auch einen Verteilungskampf, somit Priorisierungen, um die eine neue Koalition ringen muss. Letztlich steht das Stichwort der Dekarbonisierung mit der Digitalisierung für einen Transformationsprozess in einem bislang nicht dagewesenen Ausmaß und in einer zuvor nicht gekannten auch zeitlichen Dynamik. Auch deshalb drängt die Wirtschaft auf Beschleunigung, vor allem durch einen Abbau bürokratischer Hemmnisse.
Demografie war fast ausgeblendet
Die Demografie als dritte große Säule war im Wahlkampf fast ausgeblendet, bringt aber Herausforderungen mit einigem (sozialen) Sprengsatz mit sich. Natürlich geht es angesichts der Altersentwicklung um die Frage künftiger Renten, es geht aber auch um Fragen der Gesundheitsversorgung, der räumlichen Entwicklung (urbane Zentren – ländliche Regionen). Und nicht zuletzt um die Frage von Arbeitskräften vor allem Fachkräfte. Auch das Bereiche, in denen die Entwicklung längst schon unmittelbar spürbar ist, die aber konzeptionell weitgehend stiefmütterlich behandelt wurden. Bei den großen Überschriften können die Gewerkschaften im Wesentlichen mitgehen, ergänzen das hauptsächlich mit der Forderung der Beteiligung der Beschäftigten sowie einer flankierenden Qualifizierung. Ihnen sind aber auch zusätzliche Rahmenbedingungen wichtig. „Bezahlbarer Wohnraum und Mehrausgaben für Gesundheit und Pflege", nennt der DGB-Chef Reiner Hoffmann. Ansonsten haben sich die Gewerkschaften nicht nur schon lange auf die Herausforderungen der umfassenden Transformation eingestellt, teilweise sind sie selbst Treiber in diesem Prozess, wissend, dass nur Veränderungen auf Dauer den Wirtschafts- und Industriestandort Deutschland mit seinen vergleichsweise hohen Sozialstandards sichern können.
Zur Frage des (Wirtschafts-)Standortes gehört aber auch untrennbar die Situation der Kommunen dazu, nicht nur, weil sie selbst – soweit sie die Mittel dazu haben – wichtige Investitionsträger sind, sondern auch, weil ihre Infrastruktur von Kitas über Schulen bis zur Kultur und zur Integration zentrale Basis für den Standort Deutschland sind und ihre Einrichtungen sich denselben strukturellen Veränderungen stellen müssen wie alle anderen Bereiche. Das ist besonders beim Thema Schulen sichtbar geworden. Deshalb kann auch wenig verwundern, dass ihr Forderungskatalog an eine neue Bundesregierung in Teilen dem der Wirtschaft und der Gewerkschaften sehr ähnelt, in einigen Teilen, wie Bildung, Soziales und Kultur darüber hinausgeht, die wiederum der Wirtschaft als Standortfaktor ebenso Anliegen sind.
Am Ende wird niemand ernsthaft diese Forderungskataloge in ihrer Notwendigkeit bestreiten. Die Koalitionsverhandlungen werden sich wesentlich um die Priorisierungen auf der Zeitachse drehen – und vor allem und in erster Linie um die Finanzierbarkeit. Damit stehen die künftigen Koalitionäre, gleich, welche Kombination am Ende herausverhandelt wird, vor den gleichen Aufgaben, die sich durch eine Kombination von Zaghaftigkeiten und Sparwillen der Vergangenheit zu einem beträchtlichen Gebirgszug aufgetürmt haben.