Vorsondiert ist genug, jetzt wird verhandelt. Wer mit wem, stand bei Redaktionsschluss noch nicht fest. Klar ist aber, was am Ende der Verhandlungen stehen muss. Die Menschen wollen mehr als nur eine Auskunft darüber, wer letztlich ins Kanzleramt einzieht.
Bis Weihnachten ist es noch ein Stück hin. Lebkuchen und Gebäck künden aber längst davon, dass das Fest vor der Tür steht – auch wenn es am Schluss für einige wieder ziemlich überraschend kommen wird. Überraschend wird womöglich auch, was aus der derzeit großen und (noch) geheimnisvollen Inszenierung auf dem Weg zur Regierungsbildung rauskommen wird. Balkonszenen wie vor vier Jahren soll es diesmal nicht geben, haben sich viele der damals Beteiligten fest vorgenommen, und die Neuen in den Runden machen bisher gekonnt mit. Beobachter, die seinerzeit das bisweilen völlig unvertrauliche Verhandeln ob der Indiskretionen und Durchstechereien jeder noch so kleinen Nachricht ebenso begierig berichteten wie kritisierten, waren diesmal schon nach drei Tagen ziemlich entnervt vom dauernden „Wir-haben-Vertraulichkeit-vereinbart", und vielleicht mehr noch davon, dass sich die Beteiligten zunächst daran hielten. Das gehört mit zur Inszenierung des bislang unbekannten neuen Formats der „Vorsondierung".
Vertrag ist gut, Vertrauen ist besser
Jetzt ist es zwar nicht so, dass sich die an der Regierungssuche Beteiligten nicht schon über den Weg gelaufen wären, im Parlament oder Talkshows oder wo auch immer, trotzdem wollten sie sich erst mal quasi viertelinformell beschnuppern. Ein paar Kameras sollten schon dabei sein, weil nur Selfies auf Dauer auch nicht prickelnd sind. Dabei macht das Verfahren grundsätzlich Sinn.
Es ist nun mal etwas anderes, ob man sich nach einer fetzigen Talkshow noch die Hand reichen kann oder sich vier lange Jahre in einer gemeinsamen Regierung riechen und ertragen kann oder muss.
Der Auftakt für FDP und Grüne sollte zumindest signalisieren: Wir haben aus dem Desaster von vor vier Jahren gelernt, als man Jamaika schon in Sichtweite hatte, bis Christian Lindner Sturm säte. Gescheitert war das weniger an unüberbrückbaren inhaltlichen Vorstellungen, sondern weil schlicht und ergreifend Chemie und Stil nicht gestimmt haben.
Die anfängliche Disziplin hatte schon etwas Bewundernswertes. FDP-Chef Lindner hielt sich trotz stolzgeschwellter Brust über das liberale Wahlergebnis fast schon staatsmännisch zurück. Annalena Baerbock und Robert Habeck setzten ihre Doppelspitzenpräsentation fort. Sie versuchte, Platz drei in der Kanzlerkandidatenkür wegzulächeln, er sprach von einer „neuen Dynamik", um die es jetzt zu gehen hat. Olaf Scholz seinerseits tat gemäß der Rolle, die ihm das Wahlergebnis zunächst zugedacht hatte. Siegesfreude hanseatisch abkühlen und dann nach außen: Nichts. Sehend, dass die immer lauteren und heftigeren unionsinternen Streitigkeiten um das desaströse Wahlergebnis die Chancen auf die rot-gelb-grüne Ampel zunehmend erhöhten. Blieb also nur noch die Frage nach Weihnachten und wer die Ansprachen halten wird.
An der Stelle hätte wohl jeder Regisseur einen harten Cut vorgesehen, um nicht in harmonisch-seichte Unterhaltung abzugleiten. Der wird aber auch ohne Zuhilfenahme eines externen Regisseurs kommen. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit nach ersten Vor- und dann richtigen Sondierungen für Jamaika nicht ganz vom Tisch war, ist kaum vorstellbar, wie eine selbst führungslose CDU eine Koalition führen könnte. Das Risiko dürfte auch den grün-liberalen Sondierern spätestens klar geworden sein beim Versuch, überhaupt erst einmal einen Gesprächstermin mit der Union zu finden.
Wenn die Dinge nun auf eine Ampel hinauslaufen, haben auch die drei Wahlgewinner nicht nur untereinander, sondern auch jeweils intern einiges zu klären, auch wenn das durch die Wahlergebnisse nicht auf den ersten Blick augenfällig ist. Klar wird es aber spätestens dann, wenn es bei Koalitionsverhandlungskompromissen zum Schwur kommen muss.
Am wenigsten Probleme dürfte zunächst die FDP haben. Das klare zweistellige Ergebnis hat erst einmal für Ruhe gesorgt, die Regierungsbeteiligung wird das ihre dazu beitragen. Die ein oder andere inhaltliche Kröte wird verschmerzbar sein, zumal sich alle Beteiligten bewusst sind, dass sie keine Schmerzgrenzen bei den jeweiligen Partnern über Gebühr austesten dürfen. Das aber kann ein Knackpunkt werden, der sich im Laufe der Legislaturperiode auswirken wird.
Denn allen abtastend-vorsichtig rücksichtnehmenden Sortierungsanfängen zum Trotz ist allen, die derzeit ernsthaft über die Herausforderungen verhandeln, klar, welche Aufgaben vor dem Land liegen, sie sind in der Vergangenheit oft genug aufgelistet worden. Nicht nur, dass alles richtig ins Geld gehen wird, wobei die Corona-Folgen auch noch zu Buche stehen, sie erfordern auch allesamt massive Veränderungen.
Bekanntlich empfiehlt es sich für Regierungen, die sich regelmäßig der Wahl stellen müssen, die notwendigen und verabredeten Grausamkeiten am Anfang einer Regierungszeit zu machen. Nicht nur, weil man glaubt, auf das kurze Gedächtnis von Wählern setzen zu können (was ohnehin ein fragwürdiges Unterfangen wäre), sondern schlicht, weil man darauf setzen wird, dass sich die erhofften positiven Wirkungen im Laufe der Legislaturperiode einstellen und zeigen werden.
Keine großen Visionen, aber klare Projekte
Das wiederum führt fast gesetzesmäßig dazu, dass die Zustimmungsraten zunächst sinken und damit Zweifel wachsen werden, ob man sich da mit den richtigen Partnern zusammengefunden hat. Es wird also knirschen in der Koalition, aber auch innerhalb der beteiligten Parteien. Umso wichtiger, dass zumindest der harte Kern der künftigen Koalition nicht nur einigermaßen vertrauensvoll miteinander umgehen kann, sondern auch inhaltlich von dem, was vereinbart wird, ernsthaft überzeugt ist. Bei drei Partnern kein leichtes Unterfangen. In Jamaika wären es übrigens sogar vier Partner, was Zerreißproben erheblich verschärfen würde.
Gemeinhin hat man derartige Herausforderungen durch die Überschrift über einen Koalitionsvertrag versucht zu lösen, die schlagwortartig das Motto der Regierungszeit signalisieren sollte. Gewiefte Ghostwriter dürften schon an Vorschlägen basteln. Unterschätzen sollte man diese Aufgabe nicht. Es geht dabei um deutlich mehr, als nur – um es etwas salopp zu formulieren – die unterschiedlichen Partner unter einen Hut zu bekommen. Es geht um eine Headline für die Entwicklung des Landes, die auch möglichst vielen Menschen, denen einiges an Zumutungen bevorsteht (zumindest, wenn die Probleme ernsthaft angepackt werden) eine sinnvolle Orientierung geben kann.
Das wiederum heißt, dass es nicht vorrangig darum geht, irgendwelche Visionen von Zwanzigdreißig oder -vierzig zu formulieren, was grundsätzlich keineswegs verwerflich wäre. Es geht erst recht nicht darum, einen Allgemeinplatz davor zu setzen, wie etwa in Koalitionsverträgen mit der Überschrift „Für die Zukunft unseres Landes", dem nicht einmal eine noch so kritische Opposition ernsthaft widersprechen könnte. Das konnte man sich vielleicht in früheren, weniger kritischen Zeiten leisten. In Zeiten mit unabweisbar großen Veränderungsnotwendigkeiten wäre es aber ein Signal der Ideen- und Mutlosigkeit.
Die Grünen mögen vielleicht etwas mutiger formulieren können, als künftige Mitregierungspartei werden sie aber auch in der Verantwortung der konkreten Umsetzung stehen. Die SPD (so es zur Ampel kommt) wird zeigen müssen, wie viel sie aus dem noch vor einem halben Jahr nicht erwarteten Aufschwung an inhaltlicher Aufbruchstimmung für Veränderungen rauszieht.
Dass unter diesem Anspruch die Union ihre größte Mühe hätte, liegt angesichts der Entwicklung nicht erst, aber besonders seit dem Wahlsonntag auf der Hand. In der Lage nach dem Absturz muss die Union erstmal für sich selbst nach einer neuen Überschrift suchen.