Die Bundestagswahl hat die Kräfteverhältnisse neu sortiert. Die Parteienlandschaft ist insgesamt recht solide – und steht trotzdem vor massiven Herausforderungen.
Auf eine Feststellung können sich die Beobachter und Kommentatoren einigen: Die Bundestagswahl hat das Parteiensystem gehörig durcheinandergebracht. Das stimmt, und ist doch nur eine Teilwahrheit. Weder wäre eine sich anbahnende Ampelkoalition ein „Linksruck" deutscher Bundespolitik, noch wäre ein (nach dem Ergebnis nicht mögliches) rot-rot-grünes Bündnis der Untergang des christlichen Abendlandes gewesen. Der massive Verlust der Union ist die Quittung für all das, was die Unionisten in den letzten eineinhalb bis zwei Jahrzehnten nach und nach verschlafen haben. Insgesamt aber hat sich die politische Landschaft der Bundesrepublik als erstaunlich stabil gezeigt. Dafür spricht auch die Beteiligung von über drei Viertel der Wahlberechtigten (76,6 Prozent). Was nach den letzten Jahren keineswegs von vorneherein eine Selbstverständlichkeit war. An der Gesamtbetrachtung ändern die AfD-Ergebnisse im Osten nichts grundsätzlich.
Trotzdem ist das nur ein Teil der Wahrheit. Ein Stück weit überdecken dieser Wahlkampf und die Ergebnisse, vor welchen Herausforderungen und Veränderungen die Parteienlandschaft steht, und das nicht erst seit Kurzem. Schlicht deshalb, weil sich Gesellschaft verändert. Das ist nicht neu, findet aber aktuell unter neuen Bedingungen statt.
Die alten Schemata wie rechts-links oder Realo-Fundi sind Relikte früherer Sortierungen, deren inhaltliche Aussagekraft zunehmend verblasst. Wie sehr klassische Beschreibungen zunehmend schwierig sind, zeigt beispielsweise die lange Diskussion darüber, was heutzutage wohl noch unter „konservativ" zu verstehen ist. Was genauso für „liberal" und „sozialdemokratisch" zutrifft. Und bei den Grünen lässt sich ablesen, dass ihre ursprüngliche Verortung irgendwo links der politischen Mitte zwar noch als Image vorhanden, aber mit Blick auf Positionen und Wählerschaft nicht mehr zwingend gedeckt ist. Überhaupt ist die Frage, was es mit einer „Mitte" auf sich hat, um die alle kämpfen, während sie sich gleichzeitig rechts oder links davon einordnen.
Dass sich Parteien selbst dieser Begrifflichkeiten bedienen, hat natürlich einerseits mit ihrer je eigenen Tradition zu tun, aber auch damit, dass es noch weitgehend an neuen Begrifflichkeiten fehlt, mit denen eine Positionierung mit einem einfachen Adjektiv zu beschreiben wäre.
So bleibt das Unbehagen, dass einerseits ein solches einordnendes, klares Label (insbesondere in Wahlkampfzeiten) gebraucht wird, es andererseits aber eigentlich nicht mehr allzu viel aussagt über eine (inhaltliche) Verortung. Im Wahlkampf flackerte ein Teil dieser alten Linien noch in Begriffen wie der Debatte um einen „starken Staat", was aber auch nicht mehr besonders elektrisierend wirkte.
Alte Schemata verblassen zusehends
Auf der Suche nach neuen Begrifflichkeiten zu einer politischen Einordnung tauchen Begriffe wie „Gemeinwohlorientierung" auf, als praktischer Gegensatz zu einer Politik, die eher das Wohlergehen, die Eigenverantwortung und Freiheit des Einzelnen als grundlegende Richtschnur nimmt. Aber so recht was damit anfangen kann der größere Teil der Bevölkerung kaum.
Die Situation mit zwei geschrumpften, aber auf geringerem Niveau trotzdem führenden Volksparteien, dazu zwei starken „Mittelparteien", die sich alle rund um die „Mitte" gruppieren, mit ihren zusammen gut 76 Prozent der Stimmen bei einer durchaus anständigen Wahlbeteiligung, zeigt zwar eine gewisse Stabilität, die aber kann trügerisch sein, wie ein zweiter Blick zeigt.
Die Wahlbeteiligung ist zwar gestiegen, aber nur leicht von 76,2 auf 76,6, und sie liegt damit immer noch unter den Werten aller Wahlen bis 2005. Der Anstieg seit dem Absturz 2009 (70,8 Prozent) ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass die AfD ehemalige Nichtwähler angesprochen hat. Immerhin ist es diesmal der SPD gelungen, einen erheblichen Teil aus dem Nichtwählerbereich an sich zu ziehen.
Es bleibt aber bei dem von einer Bertelsmann-Studie zuletzt bestätigten Phänomen, dass die knapp 25 Prozent Nicht-Wähler vor allem in prekären Milieus zu finden sind. Damit bestehe „die Gefahr einer auch sozial selektiven Politik zugunsten wählerstarker Gruppen", so die Studie, die damit bestätigt, wovor Sozialverbände schon lange warnen. Das wird umso mehr ein Problem angesichts der Herausforderungen, die jetzt angegangenen werden müssen.
Wenn in Umfragen vor der Wahl zu wichtigen Themen die Sorge um die Rente und den Arbeitsplatz vor den „populären" Wahlkampfthemen Klima oder Digitaler Wandel standen, sagt das schon viel über das Auseinanderklaffen, und ist klares Indiz dafür, worum sich künftige gesellschaftliche Debatten abspielen. Klima und Transformation mit allen Folgen sind alleine schon Herausforderung genug, die Demographie verschärft die Entwicklungen. Neben den sozialen Spaltungen verändern aber auch längst mentale Spaltungen das Gesicht der Gesellschaft. Die heftige Debatte um den Genderstern ist nur ein sichtbarer Ausdruck dafür.
Dass sich kleine und Kleinstparteien wachsenden Zuspruchs erfreuen durften (wenn auch in einem überschaubaren Maß), ist ein weiterer Hinweis auf immer größere Volatilität in der Gesellschaft. Spaltungs- und Individualisierungstendenzen spielen sich auf allen Ebenen quer durch die Gesellschaft und in zunehmender Schärfe ab. Die frühere Integrationskraft politischer Parteien hat an Strahlkraft zunehmend verloren.
In anderen Ländern mit vergleichbaren Entwicklungen endete das mit dem Niedergang traditioneller Parteien zugunsten von neuen Parteien an den politischen Rändern, populistischen Parteien, bei denen die Frage berechtigt ist, ob sie im klassischen Sinn noch als politische Partei verstanden werden können, oder „Bewegungen", die starke politische Führungsleute unterstützen.
Diesmal standen 47 Parteien auf dem Wahlzettel
Der Wahlkampf von Olaf Scholz hatte ein bisschen was von „Bewegung". Früh war klar, dass die SPD ganz fokussiert auf den Kandidaten den Wahlkampf durchziehen wollte. Die Partei samt Vorsitzenden stellte sich ganz in den Dienst dieser Kampagne, behielten erstaunlich die Nerven und wurden überraschend deutlich belohnt. Ein Stück weit gilt das auch für Christian Lindner und die FDP. Die Partei spielte nur eine untergeordnete Rolle.
Gleichzeitig ist eine weitere Zerfaserung der Parteienlandschaft mit vielen kleinen Ein- oder Zwei-Themenparteien zu registrieren. Vor acht Jahren standen auf dem Wahlzettel 34, vor vier Jahren schon 42 Parteien, diesmal 47. Auch in den Ländern und Kommunen ist es bunter geworden. Zwar verhindert die Fünf-Prozent-Hürde eine Zersplitterung des Parlaments, gleichzeitig bedeutet das aber, dass diese Stimmen eben nicht im Parlament repräsentiert sind. Das schmälert die repräsentative Basis nicht nur zahlenmäßig, sondern auch inhaltlich. Ein Verlust, besonders angesichts der zunehmenden Interessendifferenzierung in der Gesellschaft.
In den großen Parteien wird dies nur sehr rudimentär aufgefangen. In früheren Zeiten hatten starke Arbeitsgemeinschaften (SPD) oder Vereinigungen (CDU) das zumindest teilweise aufgefangen. Deren Rolle ist zwar für innerparteiliche Kräfteverhältnisse nach wie vor nicht zu unterschätzen, im gesellschaftlichen Diskurs spielen sie aber bei Weitem nicht mehr die Rolle früherer Jahre. Was wiederum zu einer gewissen Entfremdung beigetragen haben dürfte.
Aktuell die wenigsten Probleme mit ihrem „Markenkern" dürften die Liberalen haben, die größten naturgemäß die Union. Die SPD war mit ihrem schmerzhaften Klärungsprozess zwar schon relativ weit gekommen, der Wahlsieg sollte aber nicht darüber täuschen, dass er längst noch nicht zu einem abschließenden Punkt gekommen war. Wobei solche Prozesse ohnehin nie einen Endpunkt haben können. Die Grünen stehen nicht nur wegen der Kluft zwischen Platz eins bei Umfragen und Platz drei bei der Wahl vor Klärungsfragen, die im Übrigen auch nicht neu sind. Dass sie außerparlamentarischen Druck in ihren Kernthemen verspüren, ist ein deutliches Indiz für Klärungsbedarf.