Der Dauerstreit zwischen der EU und der polnischen Regierung hat eine neue Stufe erreicht. Das Wort von einem „Polexit“ macht die Runde, auch wenn die deutliche Mehrheit der Polen das anders sieht. Nationale Eigensinnigkeiten werden aber für die EU immer mehr zum Problem.
Die Idee war genial und historisch einmalig: Die Nationalstaaten in Europa vereinbaren, auf bestimmten Gebieten der Politik gemeinsame Sache zu machen. Die Souveränität in diesen ausgewählten Sektoren wird auf europäischer Ebene gemeinsam ausgeübt. Dieser revolutionäre Vorschlag des französischen Politikers Jean Monnet im Jahre 1951 hat in den letzten 70 Jahren zu einer beispiellosen Zusammenarbeit der Staaten in der Europäischen Union geführt. Die Gründerväter wären stolz auf die bisherigen Errungenschaften der europäischen Einigungspolitik. Frieden und Freiheit, Wohlstand und Sicherheit sind die Früchte des gemeinsamen Handelns der Mitgliedstaaten in der EU.
Die Gründergeneration nach dem Zweiten Weltkrieg hatte weitreichende Visionen für die europäische Einheit. Es sollte eine ‚immer engere Union‘ werden und nicht nur eine Zweckgemeinschaft für Kohle und Stahl, nicht nur eine Zollunion und ein Binnenmarkt. Die Europa-Idee zielte letztendlich auf eine Politische Union, eine vertrauensvolle Zusammenarbeit in allen nützlichen Bereichen auf der Grundlage gemeinsamer Werte. Demokratie und Rechtsstaat im eigenen Land waren von Anfang Voraussetzung für eine Mitgliedschaft in diesem europäischen Club. Hinzu kommt die Bereitschaft, in Brüssel gemeinsam getroffene Entscheidungen und Regeln auch zuhause umzusetzen und nicht zu torpedieren. Als höchste Instanz für Entscheidungen über Konflikte wurde der Europäische Gerichtshof (EUGH) in Luxemburg geschaffen. Seine Urteile wurden über viele Jahrzehnte respektiert. Die EU braucht diese Rechtsgemeinschaft wie ein Fisch das Wasser. Gemeinsam beschlossene Standards und Ziele können nicht unterschiedlich ausgelegt und gehandhabt werden. Wenn jeder Mitgliedstaat sein eigenes Süppchen kocht, dann zerbröselt die EU, wie wir sie heute kennen. Dann ist Streit vorprogrammiert und das Ende der Gemeinsamkeit in Sicht.
Europa ist eine Rechtsgemeinschaft
Am Europa-Himmel sind dunkle Wolken aufgezogen. Der Wille, gemeinsam weiter voranzugehen, hat deutliche Risse bekommen. Der Super-GAU mit dem Brexit war ein Vorgeschmack für mangelnden Willen zu gemeinsamem Handeln und für nationale Engstirnigkeit. Die Brexiteers unter der Tory-Regierung wollte sich nicht mehr den Entscheidungen der EU und den Urteilen des EUGH unterordnen. „Take back control“ war der Schlachtruf im Austrittsreferendum. Jetzt haben sie den Salat, mit Versorgungsproblemen und Mangelerscheinungen für den täglichen Bedarf. Europarecht hat Vorrang vor dem nationalen Recht. Mit diesem bisher anerkannten Grundsatz hat leider auch das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe letztes Jahr gebrochen. Das Gericht hat die Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank in Frankfurt für rechtswidrig erklärt, obwohl das europäische Gericht vorher die Strategie der EZB als rechtmäßig beurteilt hat. Damit hat ausgerechnet Deutschland als größtes Land in der EU Zweifel an der Europapolitik verbreitet. Und die Nachahmung sollte nicht lange auf sich warten lassen.
Was den deutschen Verfassungsrichtern recht ist, ist dann auch für die polnischen Verfassungsrichter billig. So hat das oberste Gericht in Warschau gleich die Keule herausgeholt und weite Teile des EU-Rechts als nicht vereinbar mit der polnischen Verfassung erklärt. Damit legt die PiS-Regierung von Jaroslaw Kaczyński die Axt an die Mitgliedschaft des Landes in der EU. Dieses von der Regierung bestellte Urteil ist die jüngste einer Kette von Provokationen gegen europäische Werte und Regeln.
Die Unabhängigkeit der Justiz und der Medien sind in Polen nicht mehr garantiert. Die EU muss jetzt handeln, will sie ihre Glaubwürdigkeit nicht aufs Spiel setzen. Von der EU soll nicht profitieren, wer die Spielregeln der EU nicht einhält. Die 57 Milliarden Euro aus dem Corona-Wiederaufbaufonds für Polen müssen auf Eis gelegt und nicht ausgezahlt werden.
Europarecht hat Vorrang vor nationalem Recht
Ähnliches gilt auch für Ungarn, wo Viktor Orbán seit zehn Jahren ein Katz und Maus-Spiel mit den EU-Regeln veranstaltet. Auch dort hilft gutes Zureden nicht mehr. Den Steuerzahlern der anderen Mitgliedstaaten ist nicht zuzumuten, mit ihren Beiträgen illiberale und korrupte Cliquen zu finanzieren. Polen und Ungarn würden heute nicht mehr die Kriterien für die Aufnahme in die EU bestehen.
Auch aus Respekt vor den Ländern, die an die Tür der EU klopfen und auf Herz und Nieren auf ihre Tauglichkeit für die EU-Mitgliedschaft überprüft werden, kann nicht akzeptiert werden, dass einmal drin, Grundregeln über Bord geworfen werden.
Die nächste Feuerprobe kommt schon bald mit den Präsidentschaftswahlen in Frankreich. Manche rechtsnationalen Politiker überbieten sich mit Attacken auf die EU. Die neue Bundesregierung hat neben den Themen der Innenpolitik auch die große Aufgabe, sich intensiv mit den Gefahren für das Auseinanderdriften in der EU zu beschäftigen. Ein Zerbröseln der EU wäre gerade für Deutschland eine ungünstige und schlechte Perspektive.