Der FC Barcelona steckt in seiner tiefsten Krise. Finanziell und sportlich steht der Verein vor Trümmern. Ohne Lionel Messi fehlt die Attraktion – sie müssen sich neu erfinden.
Ronald Koeman kann einem leidtun. Denn die Stimmung ist im spanischen Spätsommer eisig. Er steht zwar am Spielfeldrand – aber auch jederzeit kurz vor seiner Entlassung beim FC Barcelona. Zwar wurde ihm jetzt eine kurzfristige Jobgarantie gegeben, doch es sickerte durch, dass Clubchef Joan Laporta schon im Sommer versucht hat, einen Nachfolger für Koeman zu finden, schreibt die in Barcelona erscheinende La Vanguardia. Nach der erneuten 0:3 Schlappe in der Champions League gegen Benfica Lissabon war es nach Medienberichten eigentlich beschlossene Sache, dass der Niederländer seinen Platz räumen muss – doch dann kam eben diese kurze Jobgarantie. Nach einer Roten Karte in der Liga gegen Cádiz ist er für zwei Spiele gesperrt und konnte seine Mannschaft gegen den amtierenden Meister nicht coachen. Einen überraschenden Auswärtssieg über den Meister würden seine Gegner nur als ein Zeichen deuten, dass es ohne den Niederländer auf der Bank viel besser läuft. Es gab eine 0:2 Niederlage. Er durfte bleiben.
Die große Frage ist sowieso, was sich mit einer Trainerentlassung ändern könnte. Koeman muss eine Mannschaft managen, die den für viele Fans besten Fußballer der Welt, Lionel Messi, verloren hat. Nachfragen können die Katalanen bei Juventus Turin, die sportlich eine ähnliche Odyssee durchmachen, nachdem Cristiano Ronaldo den Verein verlassen hat. Zudem hat Koeman einen Kader zur Verfügung, den sein Vorstand zusammengestellt hat. In der Champions League und in der Liga setzt er oft auf eine Mischung aus den erfahrenen Piqué, Sergio Busqets oder Luuk de Jong und der jungen Dest und Pedri. Oft kassieren die Katalanen einen frühen Gegentreffer, zeigen dann spielerische Dominanz und verlieren am Ende trotzdem. Als „interessant, aber zu naiv“ beschrieb Andoni Zubizarreta, Barças ehemalige Torwartlegende und Kolumnist bei El País, das Spiel seines ehemaligen Vereins. Früher hätte Barça aus der Hälfte der Chancen genügend Tore gemacht, um in Führung zu gehen, schrieb „Zubi“, „Selbstvertrauen würde in die Segel der Mannschaft blasen“. Stattdessen wirken bei Barça alle überfordert, so geht es im Grunde die ganze Saison. Spieler wie Piqué oder Busqets scheinen der Aufgabe körperlich nicht mehr gewachsen. Das riesige Talent der Nachwuchsstars um Ansu Fati, Pedri oder Dest reicht in der Liga auch mal für einen deutlichen Sieg, gegen erfahrene Mannschaften tun sie sich aber oft schwer. Koeman hatte diese Entwicklung nur eine Woche zuvor selbst beschrieben und um Geduld gebeten. „In der Liga im oberen Bereich der Tabelle zu landen, wäre schon ein Erfolg“, sagte er in einer kurzen Erklärung, die er im Presseraum vorlas. Der europäische Wettbewerb werde jedoch nicht mehr als eine Schule für die Talente sein: „In der Champions League darf man keine Wunder erwarten.“ Koeman erklärte zudem, dass innerhalb des Kaders Spieler fehlen, die sich aufgrund ihrer Schnelligkeit durchsetzen könnten. Verstärkungen sind angesichts der Finanzlage des Clubs nicht möglich.
Bartomeu hinterließ ein einziges Desaster
Schuld an dieser Finanzlage ist vor allem Josep Maria Bartomeu. Der Geschäftsmann, der die Geschicke des mitgliedergeführten Clubs seit 2015 lenkte, wurde auch von Führungsspielern wie Lionel Messi und Gerard Piqué für seine fehlende sportliche Kompetenz und seine wenig umsichtige Transferpolitik kritisiert. Bartomeu blähte Barças Kader zu einem überbezahlten, überdimensionierten Ungetüm auf. Die drei Rekordtransfers der Katalanen – Philippe Coutinho (2018 für 135 Millionen Euro von Liverpool gekommen), Ousmane Dembélé (2017 für 135 Millionen Euro vom BVB gekommen), Antoine Griezmann (2019 für 120 Millionen Euro von Atlético Madrid gekommen) – wurden alle in seiner Präsidentschaft verpflichtet. Keiner von ihnen spielt 2021/22 noch eine Rolle: Griezmann spielt längst wieder bei Atlético, Coutinho und Dembélé sind in den Planungen von Trainer Ronald Koeman nicht existent. Doch nicht nur die unter Bartomeu gezahlten Ablösesummen, sondern vor allem die unter ihm ausgehandelten Verträge zerbrechen seinem Nachfolger Joan Laporta aktuell den Kopf. Barças Gehaltskosten betrugen vor Ende der letzten Transferperiode nach Auskunft des neuen Präsidenten 103 Prozent (!) der Clubeinnahmen – unter anderem, weil Spielern teils irrwitzige Prämien ausgezahlt wurden. So erhielt etwa Griezmann einen Bonus von 2,5 Millionen Euro pro Saison für 60 Prozent der Einsätze. Auch deshalb konnte Laporta seine Freude nicht verbergen, als der französische Stürmer Barcelona Ende August wieder Richtung Madrid verließ. Bartomeu war neben den Finanzen auch für die Außendarstellung der Katalanen verheerend. Weil er durch das ständige Murren von Messi, Pique und Co. einen Machtverlust befürchtete, beauftragte der Patron eine Kommunikationsagentur damit, die Starspieler durch Postings in sozialen Medien zu diskreditieren und seine eigene Vereinsführung zu stärken. Der dilettantische Plan flog auf, die Welt schüttelte verstört den Kopf über „Barçagate“, Bartomeu wurde als Präsident geschasst und von der Polizei in Handschellen abgeführt. Auch wenn Bartomeus Misswirtschaft dafür sorgte, dass der Marktwert des Barcelona-Kaders sich laut „Transfermarkt“ von 1,2 Milliarden Euro im Jahr 2018 auf aktuell rund 670 Millionen Euro nahezu halbierte, gibt es mindestens fünf Gründe, an eine bessere Zukunft des FC Barcelona zu glauben. Sie heißen: Pedri, Ansu Fati, Yusuf Demir, Gavi und Nico Gonzalez. Das Teenie-Quintett soll die nächste dominante Barça-Ära prägen, wie es die einstigen Nachwuchshoffnungen Sergi Busquets, Andres Iniesta, Xavi und Lionel Messi taten. Trainer Koeman hat den drei Debütanten Yusuf Demir, Gavi und Nico Gonzalez bereits zugesagt, dass er in dieser Saison auf sie bauen wird – eine Ansage, die für Dauerbrenner Pedri sowieso gilt.
Junge Wilde machen Hoffnung
Doch Koeman kommt mit seinen Argumenten beim aktuellen Barca-Vorstand nicht wirklich weiter. „Die Mannschaft tritt nicht auf, wie wir es erwarten. Ich mag es nicht, wenn man sich damit zufriedengibt, Niederlagen akzeptiert“, sagte der Vorsitzende Laporta bei einem Treffen mit Anhängern und forderte „mehr Arbeit und weniger Reden.“ Er arbeite mit den Spielern zu wenig auf dem Trainingsplatz, sie seien konditionell nicht auf der Höhe, weshalb sie im letzten Drittel der Spiele einbrächen, so schreiben es die spanischen Medien. Andoni Zubizarreta fragt sich unterdessen, ob die gegenwärtige Unzufriedenheit im Verein nicht auch Folge des „enormen Glücks“ sei, das in den Jahren der großen Erfolge geherrscht hat, einer Zeit, als die Mannschaft „voller Selbstvertrauen in Ruhe durch Europa spaziert ist und großartige Stadien besucht hat“ und dennoch ihre Gegner dominierte. Heute sei der FC Barcelona wie seine damaligen Gegner. „Es ist hart, unbequem, zu dieser Normalität zurückzukehren, nachdem wir so lange Zeit im Himmel gelebt haben, auch wenn es nur der Fußballhimmel war“, beschreibt der Baske die derzeitige Gefühlswelt beim FC Barcelona. Damit trifft er wohl den Nagel auf den Kopf. Denn der Wandel Barcelonas zu einem seiner „damaligen Gegner“ begann schon früher. Es waren die glanzvollen Stürmer Messi und Suárez, die beim 2:8-Debakel gegen die Bayern im August 2020 noch bitterer vorgeführt wurden als die verjüngte Truppe vom letzten Spiel gegen den FC Bayern. Mag sein, dass Lionel Messi immer noch das schönste Spektakel geliefert hat – den besten Fußball spielte Barça schon lange nicht mehr. Der letzte Gewinn des Henkelpotts datiert vom Mai 2015. Und auch der letzte spanische Titel ist schon zwei Jahre her. Realismus wäre in dieser Zeit durchaus angebracht. Matthias Sammer brachte es nach dem Spiel, wie immer eigentlich, auf den Punkt: „Der FC Barcelona wird immer ein riesiger Verein bleiben und es irgendwann auch wieder auf dem Platz zeigen.“ Dass der Verein nun auf seine jungen Spieler setzen muss, kann eine Chance sein. Der Trainer spielt da eher eine untergeordnete Rolle.