Sie waren lange ein Tabuthema. Die Corona-Krise hat psychische Leiden nur noch verstärkt – und das auch bei Kindern, die häufig in ihren Empfindungen nicht ernst genommen werden. Eine weiteres Problem, das durch die Pandemie in den Fokus der Öffentlichkeit rückt.
Kein normaler Schulunterricht, kaum Kontakt zu Freunden und zu Hause herrscht dicke Luft: Auch wenn Kinder etwas weniger gefährdet sind, schwer an Covid zu erkranken, macht ihnen die Pandemie zu schaffen. Gerade junge Menschen mussten in den letzten anderthalb Jahren stark zurückstecken. Ihre Belange kommen in der Corona-Krise zu kurz.
Sowohl Kinder als auch Jugendliche, die sich noch in der Entwicklung befinden, brauchen den Kontakt zu Gleichaltrigen, beispielsweise um soziale Interaktion außerhalb der Familie zu lernen. Die Corona-Isolation der vergangenen Monate kann deshalb ihre Psyche belasten. Vielen Kindern und Jugendlichen fehlt zudem gerade ein wichtiger Ausgleich: Sie machen weniger Sport als vor der Pandemie. „Sport ist ganz wesentlich für das psychische und physische Wohlbefinden. Neben der für die gesunde Entwicklung so wichtigen Bewegung treffen Kinder und Jugendliche beim Sport auch ihre Freundinnen und Freunde, lernen, sich in ein Team einzuordnen und mit Konflikten, Siegen und Niederlagen umzugehen", erklärt Ulrike Ravens-Sieberer, Forschungsdirektorin der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik des Universitätsklinikums Hamburg Eppendorf.
Kindern fehlt Ausgleich und Sport
Gleichzeitig verbringen Kinder mehr Zeit als sonst am Bildschirm. Handy, Tablet und PC sind nicht nur Freizeitbeschäftigung, sondern bestimmen auch durch den Onlineunterricht stärker den Alltag.
Die Lebensrealität von Kindern und Jugendlichen hat sich also, wie die vieler Menschen während der Pandemie, stark verändert. Anders als jedoch manche Berufsgruppen haben sie keine starke Lobby, mithilfe derer sie ihre Interessen und Bedürfnisse durchsetzen könnten. Umso wichtiger, nach all der Anstrengung in den vergangenen Monaten einmal zu schauen: Wie sind Kinder und Jugendliche während der Pandemie klargekommen? Gibt es erste Daten und Fakten, wie es ihnen mit der Situation geht?
Dass Kindern und Jugendlichen die Situation aufs Gemüt schlägt, ist nun offiziell belegt. Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus Hamburg fragten in einer repräsentativen Onlineumfrage mehr als 1.000 Sieben- bis 17-Jährige aus ganz Deutschland, wie es ihnen geht. Bei den jüngeren Teilnehmenden wurden stellvertretend die Eltern befragt, wie sie das Befinden ihres Kindes einschätzen. Das taten die Forschenden der „Copsy"-Studie (Corona und Psyche) einmal zu Beginn der Pandemie im Mai und Juni 2020 und noch einmal während der zweiten Welle im Dezember 2020 und Januar 2021. Die Ergebnisse verglichen sie mit ähnlichen Daten von 2017 und 2018. Berichteten vor Corona 15 Prozent der befragten Kinder und Jugendlichen von einer geminderten Lebensqualität, fühlten sich im Sommer 2020 ganze 40 Prozent unwohl. In der zweiten Welle stieg die Zahl noch einmal leicht auf 48 Prozent.
Psychische Leiden bei jungen Menschen steigen an
Vor der Pandemie zeigte knapp jeder fünfte junge Mensch psychische Auffälligkeiten wie Sorgen und Lustlosigkeit, in der Corona-Pandemie etwa jeder dritte, so das Ergebnis der Umfrage. Diese können allerdings normale Anzeichen für eine psychische Belastung sein und stellen noch keine psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen dar.
Ob die durch Corona zugenommen haben, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sicher sagen, da bisher keine belastbaren Zahlen vorliegen. „Normalerweise dauert es mindestens ein oder zwei Jahre, bis entsprechende Statistiken zur Verfügung stehen", erklärt Robert Schlack, der am Robert Koch-Institut das Aufkommen psychischer Störungen bei Kindern untersucht. Erste Versorgungsdaten der Kaufmännischen Krankenkasse deuten aber darauf hin, dass 2020 etwas mehr Kinder und Jugendliche wegen psychischer Erkrankungen behandelt wurden.
Tatsächlich zeigt sich dieser Trend schon seit Längerem: Junge Menschen erhielten in den letzten Jahren immer häufiger psychiatrische Diagnosen. Vor allem Depressionen nahmen auf den ersten Blick zu, wie zum Beispiel eine Analyse ärztlicher Abrechnungsdaten zwischen 2009 und 2017 zeigt. Das ist allerdings auch ein Zeichen für das generell gestiegene Bewusstsein für psychische Probleme: Die Menschen gehen eher damit zum Arzt oder zur Ärztin als noch vor 20 Jahren, sodass die Erkrankungen nur scheinbar zunehmen. Vergleicht man epidemiologische Studien, bei denen Forschende repräsentative Stichproben aus der Bevölkerung ziehen und auf psychische Störungen untersuchen, zeigt sich ein anderes Bild. „Die Prävalenz psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen ist in den letzten Jahrzehnten gleich geblieben oder teilweise sogar zurückgegangen. Das zeigt sich auch international", stellt Robert Schlack klar. Bei Erwachsenen findet sich in solchen Studien ebenso kein Anstieg psychischer Erkrankungen.
Die Corona-Pandemie, die als Jahrhundertereignis in die Geschichtsbücher eingehen wird, war allerdings für Groß und Klein eine besondere Belastungsprobe, sagen Forschende. In Bezug auf Kinder und Jugendliche zeigte die Längsschnittstudie Copsy: Jüngere Kinder litten in der Pandemie eher unter Ängsten und depressiven Symptomen, Verhaltensauffälligkeiten, Hyperaktivität und emotionalen Problemen, während Jugendliche verstärkt mit psychosomatischen Beschwerden wie Kopfschmerzen zu kämpfen hatten. Bei Jungen führte die veränderte Lebenssituation eher zu Hyperaktivität, bei Mädchen schlug sich der Stress in Ängstlichkeit und Bauchschmerzen nieder.
Manche Kinder und Jugendliche traf es dabei härter als andere: Wer einen Migrationshintergrund oder Eltern mit geringer Bildung hatte, mit einem psychisch erkrankten Elternteil zusammenlebte oder auf sehr engem Raum wohnte, litt stärker unter der Pandemie und zeigte mehr seelische Beschwerden, wie die Copsy-Daten offenbarten. Wo es keinen Internetanschluss gab, nicht für alle Geschwister ein eigener Laptop fürs Homeschooling zur Verfügung stand oder die Eltern nicht bei den Schulaufgaben unter die Arme greifen konnten, war die Situation besonders schwierig. Auch junge Menschen mit Lernbehinderungen oder anderen Einschränkungen waren durch Schulschließungen und Co. stärker als andere benachteiligt.
Kinder mit schlechten Startbedingungen haben es also auch in der Corona-Krise um einiges schwerer. „Wer vor der Pandemie gut dastand, Strukturen erlernt hat und sich in seiner Familie wohl und gut aufgehoben fühlt, wird auch gut durch die Pandemie kommen. Wir brauchen aber verlässlichere Konzepte, um insbesondere Kinder aus Risikofamilien zu unterstützen und ihre seelische Gesundheit zu stärken", sagt Ulrike Ravens-Sieberer, die die Copsy-Studie leitete.
Leichterer Zugang zu Beratung und Therapien
Die gute Nachricht: Ein harmonisches Familienleben dämpft offenbar die psychischen Folgen der Corona-Krise – und das sogar bei besonders gefährdeten Kindern. Umgekehrt war elterlicher Stress während der Zeit von Schulschließungen ein wichtiger Faktor für seelische Probleme bei Kindern, wie eine Untersuchung aus den USA zeigte. Unsicherheit, finanzielle Nöte, Sorgen um erkrankte Verwandte und Zukunftsängste, unter denen in der Corona-Krise viele Eltern litten, blieben dem Nachwuchs nicht verborgen. Fachleute gehen davon aus, dass dieser Stress auch dazu führen kann, dass Eltern sich während der Krise strenger verhalten und schneller ungehalten werden. Leicht zugängliche Therapie- und Beratungsangebote für Eltern sind also nötiger denn je, um das Klima in Familien zu verbessern.
Der Umgangston wird nicht bloß rauer. In manchen Familien verschärfte die Pandemie die Situation offenbar derart, dass es zu Gewalt kam. In der Zeit der strengsten Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen im Frühjahr 2020 wurden in knapp sieben Prozent der Haushalte Kinder geschlagen. Das ergab eine repräsentative Umfrage zur Zeit der schärfsten Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen im Frühjahr 2020.
Die Gesundheitsforscherin Janina Steinert von der Technischen Universität München forderte deshalb, dass Notbetreuungen für Kinder geschaffen werden sollten, die nicht nur Eltern in systemrelevanten Berufen zur Verfügung stehen. Außerdem riet die Wissenschaftlerin: „Da Depressionen und Angstzustände das Gewaltpotenzial erhöhen, sollten psychologische Beratungen und Therapien auch online angeboten und ohne Hürden genutzt werden können." Frauenhäuser und andere Stellen, die Hilfen anbieten, müssten systemrelevant bleiben. Und auch unabhängig von der Pandemie kann ein leichterer Zugang zu Beratung und Therapien Familien helfen, in denen es Probleme gibt.