Auch nach seinem Olympiasieg ist Florian Wellbrock auf Siege gepolt. Der Schwimmstar will jetzt bei den internationalen Titelkämpfen auf der Kurzbahn als Gejagter erfolgreich sein.
Florian Wellbrock und Bernd Berkhahn sind wahrlich nicht die emotionalsten Typen auf dieser Erde. Selbst beim erlösenden Olympiasieg in Tokio, den sich der Schwimmer und sein Trainer so sehr gewünscht und viele Menschen fast schon erwartet hatten, schien ihre Freude eher gedämpft. Ganz so, als würden sie es nicht realisieren, dass die harte Arbeit über viele Jahre am Stützpunkt Magdeburg tatsächlich mit Gold im Odaiba Marine Park belohnt wurde. Und auch knapp drei Monate später hat es zumindest beim Coach den ganz großen emotionalen Ausbruch noch nicht gegeben.
„So richtig verarbeitet ist es noch nicht", gibt Berkhahn zu. Ihm sei das selbst nicht geheuer: „Ich warte noch darauf, dass es endlich raus kann." Er habe das Gefühl, „dass das noch nicht passiert ist. Da wird irgendwann noch mal ein Knoten platzen." Wellbrock, der diese Sätze von seinem Trainer zufällig mitbekommt, dreht sich um und fragt ihn scherzhaft: „Will man dann in deiner Nähe sein oder lieber nicht?" Der Schwimmstar selbst scheint sein Goldrennen bereits in der Vergangenheit geparkt zu haben. Sein Fokus ist wieder nach vorne gerichtet. Auf neue Duelle, neue Rekorde, neue Siege. „Die olympische Goldmedaille", sagt er, „hat Hunger auf mehr gemacht."
Auch bei der Europameisterschaft in Kasan (2. bis 7. November) und der anschließenden Weltmeisterschaft in Abu Dhabi (16. bis 21. Dezember) kämpft der 24-Jährige auf der Kurzbahn um Edelmetall. Die 25-m-Bahn war bislang nicht Wellbrocks liebstes Metier, die vielen Wenden behagen ihm nicht. Der Doppel-Weltmeister von 2019 mag es, wenn er über 50 Meter seine exzellente Kraultechnik ausspielen kann. Doch in diesem Jahr greift er auch in der Wintersaison voll an, denn in Sachen Wettkampfhärte sieht Wellbrock nach dem verlorenen Coronajahr 2020 noch ein wenig Luft nach oben. Der Olympiasieg hat ihn nicht satt gemacht – ganz im Gegenteil.
Duelle gegen Top-Leute geben die Extra-Motivation
„Der Hunger kommt da von ganz allein", sagt Wellbrock: „Ich freue mich sehr auf die kommenden Wettkämpfe und vor allem auf die internationale Konkurrenz." Denn in den Duellen gegen Top-Leute wie den Ukrainer Michailo Romantschuk und den Italiener Gregorio Paltrinieri holt sich Deutschlands Vorschwimmer die Extra-Motivation. „Ich bin ein Typ, der immer Bock auf Wettkampf hat", sagt er, „und der eigentlich auch immer abliefert." Das bewies Wellbrock auch gleich zum Start in die nacholympische Saison: Beim Freiwasserrennen in Barcelona düpierte er über 10 Kilometer auf Anhieb die Konkurrenz, bei den Kurzbahn-Weltcups in Berlin und Budapest schlug er in beiden 1500-m-Rennen als Erster an.
Von seiner Bestzeit (14:28,19 Minuten) auf der 25-m-Bahn war Wellbrock auf seiner Paradestrecke aber noch weit entfernt. Sorgen bereitet ihm das nicht, schließlich befindet er sich erst seit gut zwei Monaten wieder im Training. Im Vordergrund standen zunächst die Grundlagenausdauer und vor allem technische Elemente. „Das sind schon Grundlagen für Paris 2024 – und nichts anderes", sagte Heimtrainer Berkhahn mit Blick auf die nächsten Olympischen Spiele. Seinem Schützling fehlt es noch an Spritzigkeit und Endgeschwindigkeit, doch im Wasser fühle er sich zurzeit „unheimlich wohl".
Die für Spitzenzeiten notwendige Schnellkraft und Kraftausdauer standen in den ersten Einheiten überhaupt nicht auf dem Plan. Bei der EM in Kazan und vor allem einen Monat später bei der WM in Abu Dhabi will Wellbrock aber zumindest in Richtung des deutschen Rekords (14:20,44) schwimmen. Den hält seit 2009 ein gewisser Jan Wolfgarten, geschwommen im inzwischen verbotenen Hightech-Anzug.
„Ich möchte versuchen, mich auch auf der Kurzbahn in der Weltspitze zu etablieren, das ist mir bislang noch nicht gelungen", sagt Wellbrock. Die Titelkämpfe seien zudem eine gute Möglichkeit, „um ein bisschen abzuleiten, was auf der Langbahn möglich ist". Denn im Mai und August stehen die WM in Fukuoka/Japan und Rom/Italien auf dem Programm. Zwei Highlights, bei denen Wellbrock plötzlich der Gejagte ist. Er sei „auf jeden Fall motiviert" und gebe sich weiterhin nicht mit vierten Plätzen zufrieden: „Der Medaillenkampf macht für mich am meisten Spaß."
Seine Olympia-Goldmedaille für den Triumph über 10 Kilometer hängt in der Wohnung von Wellbrock und seiner Verlobten, der Olympiadritten Sarah Köhler. „Ich laufe da praktisch jeden Tag beim Frühstück mit der Kaffeetasse dran vorbei", erzählte er dem Tagesspiegel, „ich kann jetzt jeden Tag auf diesen erfüllten Traum gucken." In der Vergangenheit haben schon viele Top-Sportler auf dem Karrierehöhepunkt ein paar Prozentpunkte an Leistung eingebüßt, doch Wellbrock sieht diese Gefahr nicht. Weil er seiner Meinung nach das Limit noch nicht erreicht hat. „Ich habe das Gefühl, dass ich immer noch nicht fertig bin", meint er: „Jetzt gilt es, am noch fehlenden Puzzleteil zu arbeiten."
Man merkt: Die Bronzemedaille im Olympia-Becken über 1.500 m Freistil war nicht ganz das, was er sich erhofft hat. Wellbrock war als amtierender Weltmeister und großer Favorit ins Wasser gesprungen, zumal sein vermeintlich größter Rivale, der Italiener Paltrinieri, wegen der Folgen eines Pfeifferschen Drüsenfiebers geschwächt war. Doch wie aus dem Nichts tauchte plötzlich ein US-Amerikaner auf und überraschte alle: Robert Finke flog förmlich auf der Schlussbahn und fing den in Führung liegenden Wellbrock noch ab, auch Romantschuk musste der Deutsche noch an sich vorbeiziehen lassen.
„Der Anspruch von mir und den Medien ist ein anderer"
„Der Anspruch von mir und auch den Medien ist natürlich ein anderer", sagt Wellbrock. Mit der öffentlichen Erwartungshaltung war der junge Mann im Vorfeld der Spiele nicht ganz einverstanden: „Teilweise wurde es ja so kommuniziert: Der Wellbrock hat drei Starts und holt viermal Gold." Der als „Retter des deutschen Schwimmsports" auserkorene Wellbrock musste aber auch mit seinen eigenen Ansprüchen klarkommen – und die waren keineswegs kleiner als die der Medien. „Ich muss mit Bronze zufrieden sein, auch wenn es mich wurmt", sagt der Weltmeister: „An diesem Spruch ist schon was Wahres dran: ‚Nach oben zu kommen ist schwierig, oben zu bleiben noch schwieriger‘".
Die Bronzemedaille wollte Wellbrock eigentlich seinem Vater schenken, „weil es die erste war". Aber Bernd Wellbrock lehnte das Geschenk mit den Worten ab: „Ich habe da keine Aktien und keine Arbeit drin." Sein Sohn fuhr mit dem Edelmetall von Bremen zurück nach Magdeburg: „Da musste ich sie wieder mit nach Hause nehmen." Dort gesellte sich Bronze zu Gold – und beide Medaillen zaubern ihm jeden Morgen ein Lächeln auf die Lippen. Im Großen und Ganzen habe er sich durch den Erfolg nicht verändert, sagt er, „außer, dass ich in der Grundstimmung ein bisschen zufriedener bin." Alles, was jetzt noch kommt, ist Zusatz. „Ich habe jetzt alles erreicht: Europameister, Weltmeister, Olympiasieger. Das zu wissen, tut schon sehr gut."
Auch finanziell haben sich seine Tokio-Auftritte ausgezahlt. Der gelernte Immobilienkaufmann steht beim ALBUS-Management unter Vertrag, das schon für ehemalige Spitzenschwimmer wie Britta Steffen und Paul Biedermann hochdotierte Werbeverträge und Auftritte an Land gezogen hatte. Nach Olympia tauschte Wellbrock die Schwimmhose gegen den feinen Zwirn und holte sich seine Auszeichnung bei der Goldenen Henne ab, außerdem trat er in der ARD-Rateshow „Wer weiß denn sowas?" auf.
Bislang war Wellbrock eher so etwas wie ein „Local Hero", doch das hat sich mit Tokio geändert. Er werde seinen Marktwert „auch auf internationaler Ebene erweitern", prophezeite Claudia Lindner vom ALBUS-Management, „somit wird Florian in die Liga der Topverdiener kommen". Wellbrock ist längst ein Schwimmprofi, der von staatlichen Fördermitteln nicht mehr so abhängig ist wie noch zum Start seiner Karriere. „Ich bin schon seit 2019 in der glücklichen Lage, von meinem Sport leben zu können", sagt er: „Das ist gerade im Schwimmsport nicht selbstverständlich, deswegen wertschätze ich das sehr." Ihm fehle es „an nichts", und durch Olympia sei die Aufmerksamkeit „noch mal gestiegen". Dass er nun auch einer breiteren Masse bekannt ist, wusste Wellbrock spätestens beim Urlaub im Saarland, als ihn fernab der Heimat Leute erkannten. Das sei vorher so gut wie nie vorgekommen, berichtet der Magdeburger, „das haben schon einige mitbekommen, was da im Sommer passiert ist."
Wellbrock führt aktuelles EM- und WM-Team an
Sein Urlaub sei „kurz, aber sehr schön und vor allem erholsam" gewesen, verriet Wellbrock: „Ich war ein wenig in Deutschland unterwegs, habe meine Eltern besucht und die Zeit mit meiner Familie genossen." Er habe es genossen, „mal keine Termine zu haben und auch einfach mal nichts zu tun."
Doch damit ist jetzt Schluss, Wellbrock greift wieder an. Der Olympiasieger führt das EM- und WM-Team an, seine Verlobte Köhler stößt erst zu den Welttitelkämpfen in Abu Dhabi dazu. Die Magdeburgerin plagte sich zuletzt mit Nacken- und Schulterproblemen, außerdem konzentrierte sie sich wieder verstärkt auf ihr Jura-Studium. Auch auf Isabel Gose ruhen die Hoffnungen des Deutschen Schwimm-Verbandes (DSV), die Olympiasechste gewann ihre beiden Weltcup-Starts über 400 m Freistil. Sie fremdelte auf der Kurzbahn zwar auch lange Zeit, doch inzwischen hat die 19-Jährige „viel Spaß" auf der 25-m-Bahn.Zu Medaillenkandidaten zählt auch Rückenschwimmer Christian Diener, der sich nach seinem enttäuschenden Halbfinal-Aus bei Olympia zuletzt in Hochform präsentierte. Nachwuchshoffnungen wie Nele Schulze (17), Sven Schwarz oder Oliver Klemet (beide 19) sollen „Erfahrungen auf internationalem Topniveau" sammeln, wie Bundestrainer Hannes Vitense forderte.