Abgesehen vom Radball sind die deutschen Teilnehmer in allen fünf Kunstrad-Wettbewerben bei der Hallenradsport-WM in Stuttgart die klaren Gold-Favoriten. Der viermalige Titelträger Lukas Kohl ist der Star der Szene, aber auch er ist ein waschechter Amateur.
Wenn zukünftig Steuergelder nur noch ganz gezielt in nationale Sportverbände investiert werden sollen, die bei den Olympischen Spielen sichere Medaillenkandidaten sind, wie es die derzeit heiß diskutierte sogenannte Potenzialanalyse (Potas) vorsieht, müssten die deutschen Kunstrad-Athleten eigentlich jubilieren. Es gibt keine andere Disziplin, in der die Dominanz bundesrepublikanischer Aktiver über den Rest der Welt größer ist, als eben in dieser traditionsreichen Sportart, deren Ästhetik sich am ehesten mit dem Kunstturnen oder dem Eiskunstlauf vergleichen lässt. Schon 1892 wurden erste Wettbewerbe im Einer-Kunstfahren der Männer ausgetragen, seit 1928 Europameisterschaften und seit 1956 Weltmeisterschaften abgehalten werden. „Kunstradfahren ist die höchste Vollendung des Geräteturnens", hat es mal der frühere Bundestrainer der Kunstradfahrer, Heinz Pfeiffer, ganz prägnant auf den Punkt gebracht.
Neue Anläufe für die Teilnahme bei Olympia
Nur von Potas wird der deutsche Kunstradsport leider nicht profitieren können, weil die Disziplin leider noch nie zum Programm der Olympischen Spiele gezählt hat. 1972 hätte man es beinahe geschafft, doch der direkte Konkurrent Handball war letztendlich stärker gewesen. „Danach sind wir in der Versenkung verschwunden und haben es versäumt, weiter Lobbyarbeit zu betreiben", so Dieter Maute, der seit 2003 im Bund Deutscher Radfahrer (BDR) als Honorar-Bundestrainer für den hiesigen Kunstradsport verantwortlich ist. Laut dem Journalisten Klaus J. Dobbratz, der mit seiner renommierten Agentur Internationale Sportkorrespondenz (ISK) unter anderem für die Gala-Veranstaltung „Sportler des Jahres" verantwortlich zeichnet und für den BDR auch die Pressearbeit rund um die aktuelle Hallenradsport-WM in Stuttgart vom 29. bis zum 31. Oktober übernommen hat, hat es in den vergangenen Jahren neue Anläufe Richtung Olympia-Teilnahme gegeben. Sogar Gespräche mit Thomas Bach, dem deutschen Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees, habe es gegeben. Doch letztendlich habe es am letzten Einsatz des Internationalen Radsport Verbandes UCI gemangelt, weil dieser als zuständiger Dachverband für eine potenzielle Aufnahme des Kunstradsports ins olympische Programm eine andere schon bei den Spielen zugelassene Rad-Disziplin hätte opfern müssen.
„Immer wieder kocht die Frage ‚Kunstradsport und Olympia‘ hoch", so auch Bundestrainer Dieter Maute in einem Beitrag des Portals sportregion.stuttgart.de, „ein ganz, ganz schwieriges Thema. Dabei handelt es sich aus meiner Sicht um eine Diskussion auf politischer Ebene, denn ich bin überzeugt, dass ein Dabeisein unter den fünf Ringen möglich wäre, wenn die UCI dies wirklich wollte und unterstützen würde. Aber ehrlich gesagt bin ich da etwas zwiegespalten, denn unsere Sportart ist sehr familiär geprägt und noch rein intrinistisch motiviert betrieben. Zwar haben wir finanziell gesehen, sogar für unsere Spitzenathlet*innen, amateurhafte Strukturen, aber natürlich dennoch einen professionellen Trainingsaufwand und hochprofessionelle Leistungen, und man benötigt zwölf bis 14 Jahre, um an die Weltspitze zu kommen."
Vor diesem Hintergrund steht nun die wegen der Corona-Pandemie um ein Jahr verschobene Hallenradsport-WM mit den beiden Sportarten Kunstradfahren und Radball in der Stuttgarter Porsche-Arena an, die unter dem offiziellen Namen UCI Indoor Cycling World Championships Stuttgart 2021 geführt wird und für die 19 Nationen rund 300 Sportler gemeldet haben. Für Deutschland als Organisator nichts Neues, denn von den bislang 64 Weltmeisterschaften haben allein 17 hierzulande stattgefunden, bei denen es regelmäßig einen deutschen Medaillenregen zu verzeichnen gab. Seit 1956 gingen bei den Männern allein 54 der 63 Weltmeistertitel an deutsche Athleten, bei den Damen waren es 43 von 60 möglichen Titelgewinnen. Es wäre schon eine große Überraschung, wenn die hoch favorisierten deutschen Teilnehmer am Neckar vor den wahrscheinlich gut besuchten Zuschauerrängen (maximal sind unter Einhaltung der 3G-Regel 5.000 Besucher erlaubt, Mitte Oktober waren bereits 3.500 Tickets verkauft) auch heuer wieder sämtliche Titel in den fünf WM-Wettkampf-Disziplinen abräumen würden: Einer-Kunstrad Männer und Frauen, Zweier-Kunstradfahren Frauen und Zweier Offene Klasse (wahlweise zwei Männer oder Mixed-Team Frau/Mann) sowie Vierer Offen. Bei der letzten WM 2019 in Basel hatten die deutschen Aktiven in allen fünf Wettbewerben die Gold- und Silbermedaille gewonnen.
Starke Konkurrenz im Radball
Nur im Radball gibt es für die deutschen Aktiven regelmäßig starke Konkurrenz, zuletzt vor allem aus Österreich. Weshalb im Finale wieder mit einem Duell zwischen dem deutschen Vertreter, den beiden frisch gebackenen Deutschen Meistern 2021 und Vizeweltmeistern von 2019, Bernd und Gerhard Mlady vom RMC Stein, und ihren Austria-Dauerrivalen Patrick Schnetzer und Markus Bröll vom RV Dornbirn, den amtierenden Titelträgern und schon siebenmaligen Weltmeistern, gerechnet werden kann. Womöglich können auch die frisch gebackenen Schweizer Meister Severin und Benjamin Waibel ein Wörtchen beim WM-Titelkampf mitsprechen. Man darf gespannt sein, wer auf dem 14x11 Meter großen bandengesäumten Spielfeld in den jeweils zwei Mal sieben Minuten dauernden Matches letztlich die Oberhand auf den Spezialrädern ohne Gangschaltung und Bremsen behalten wird und den rund 600 Gramm schweren Ball, in der Regel mit Hilfe des Vorderrads, am häufigsten ins gegnerische, zwei Meter hohe und breite Tor befördern kann. Dessen Keeper zur Schussabwehr die Hände zu Hilfe nehmen darf, sofern er beide Füße auf dem Pedal postiert hat. Wer die Spiele und die Kunstrad-Performances medial verfolgen möchte, sollte den SWR-Sport-Livestream einschalten. Der ARD-Sender wird Samstag ab 16 Uhr und Sonntag ab 12.30 Uhr ausführlich berichten.
Auch wenn Baden-Württemberg die eigentliche deutsche Kunstradhochburg ist, so kommen die amtierenden Weltmeister im Einer-Kunstrad der Männer und Frauen Lukas Kohl, wegen seiner Dominanz bewundernd auch „Lukinator" genannt, und Milena Slupina doch aus Franken. Aber auch diese Top-Athleten mussten sich nach der langen Corona-Zwangspause ab Mitte Juni 2021 durch diverse Qualifikationen mit den Anfang Oktober 2021 in Moers durchgeführten Deutschen Meisterschaften als finales i-Tüpfelchen kämpfen. Wobei Lukas Kohl seinen Fabel-Weltrekord nochmals verbessern und die neue Bestmarke auf unglaubliche 214,20 Punkte hochschrauben konnte. Im Bereich oberhalb der 200 Punkte sind die männlichen deutschen Kunstradfahrer ohnehin international praktisch unter sich. Auch Milena Slupina konnte ihren eigenen Weltrekord um zwei Punkte auf 197,71 Punkte katapultieren.
In Stuttgart scheint die WM-Goldmedaille für Kohl und Slupina nur Formsache zu sein. Auf die Silbermedaille hoffen die beiden weiteren deutschen Einer-Starter Max Maute und Lara Füller. Aber auch die deutschen Überflieger müssen auf ihren aus Aluminium oder Stahl gearbeiteten, für Vorwärts- und Rückwärtsfahren geeigneten Spezialrädern mit extremem Reifendruck erst einmal ihre 30 Übungen in ihrer maximal fünf Minuten dauernden Kür möglichst perfekt auf den auf 14x7-Meter beschränkten Hallenboden-Parcours zaubern. Besonders beim „Lukinator" reiht sich eine Höchstschwierigkeit an die andere, die er noch zusätzlich durch Bonuspunkte beispielsweise durch zusätzliche Rotationen beim Drehsprung aufzuwerten pflegt, bei dem die Beine wie beim Turnen am Pauschenpferd das Fahrrad umkreisen, und bei der Lenkerstanddrehung um 180 Grad beim Vorwärtsfahren.
Hohe Geschwindigkeit beim „Lukinator"
Jeder Teilnehmer muss seine aus dem umfangreichen UCI-Übungs-Reglement ausgewählten Kür-Kunststücke vorab dem Kampfgericht melden. Die daraus errechnete Maximalpunktzahl wird vor dem Wettkampfstart auf der Anzeigetafel angezeigt, bei möglichen Fehlern ist der Punkteabzug sofort erkenntlich. Gefragt ist in der Einer-Kunstrad-Königsdisziplin vor allem turnerisches Können, nur dass die Tricks wie ein Handstand erschwerend auf Oberrohr oder Lenker präsentiert werden müssen. Bei den Zweier- und Vierer-Wettbewerben sind 25 Übungen im Fünf-Minuten-Wettkampf vorgeschrieben. Wobei in den beiden Zweier-Performances etwa zur Kür-Hälfte der Wechsel der beiden Teilnehmer von zwei Rädern mit möglichst synchronem Übungsverlauf auf ein gemeinsames Gefährt zur Präsentation akrobatischer Elemente und Tragefiguren stattzufinden hat. Für Deutschland werden bei den Frauen die beiden Doppel Caroline Wurth/Sophie-Marie Wöhrle und Selina Marquardt/Helen Vordermeier um die Medaillen kämpfen, in der Offenen Klasse die beiden Doppel Serafin Schefold/Max Hanselmann als Titelverteidiger und Nico Rödiger/Lea-Victor Styber. Beim Vierer-Wettbewerb, für den sich das Team der VfH Worms mit Nora Erbenich, Sabrina Born, Hannah Rohrwick und Annika Furch qualifizieren konnte, liegt der Fokus ganz klar auf der Synchronizität der dargebotenen Übungen.
Schade nur, dass die Hallenradsportler, unter denen es auch viele Studenten gibt, so gut wie keine finanzielle Unterstützung erhalten. Laut Insider Klaus J. Dobbratz sind Sporthilfe-Zuwendungen von 150 Euro schon das Maximum der Gefühle, allenfalls bei Showeinlagen im Rahmen von größeren Veranstaltungen könnten schon mal 500 Euro abfallen, mit denen dann aber noch die Anfahrtskosten beglichen werden müssten. Hallenradsport ist laut Dobbratz noch immer ein reiner „Idealisten-Sport". Allerdings gebe es immerhin einsichtige Arbeitgeber, die ihren in der Hallenradsport-Weltspitze vertretenen Angestellten Freiräume für das tägliche Training ermöglichen. Dennoch hält Lukas Kohl mit seiner Enttäuschung über die mangelnde Wertschätzung seiner Sportart nicht hinter dem Berg: „Ohne Geld keine Medien, ohne Medien keine Lobby, ohne Lobby kein Geld."