Jens Spahn hat eine heftige Diskussion um ein mögliches Ende der epidemischen Notlage entfacht. Wünschenswert sicherlich – aber auch realistisch und verantwortbar? Die Einschätzung der Entwicklung bleibt unsicher.
In Expertenkreisen überwiegen Unverständnis und Kritik an der Idee, demnächst das Ende der epidemischen Notlage nationaler Tragweite zu erklären. Nach den jüngsten und weitreichenden Lockerungen steigen die Infektionszahlen wieder deutlich an – trotz hoher Impfquote. Jens Spahn hat mit seinem Vorstoß für eine Beendigung der Corona-Notlage nicht nur für Irritationen in Expertenkreisen gesorgt. Die Entwicklungen sprechen eigentlich eine andere Sprache. Auch wenn die Inzidenzzahl nicht das Maß aller Dinge sein soll, ist deren kontinuierlicher Anstieg nicht einfach wegzudiskutieren. Alleine das wäre schon Grund genug, über die Motivlage für einen solchen Vorstoß zu spekulieren.
Entwickelt sich die Infektionslage in überschaubarem Rahmen, bleibt vor allem die Hospitalisierungsrate in Grenzen, könnte sich Jens Spahn den Abschied vom Gesundheitsministerium sozusagen veredeln. Frei nach dem Motto: Pandemische Notlage beendet – Auftrag erfüllt. Wenn es denn so wäre, würde man es dem scheidenden Minister gönnen können. Es spricht nur derzeit nichts dafür. Im Gegenteil.
Die Impffortschritte der letzten Wochen waren ein mühsames Geschäft. Alle, die sich – mehr oder minder – freiwillig impfen lassen wollten, sind soweit durch. Damit sind zwei Drittel der Bevölkerung (66,2 Prozent der deutschen Bevölkerung, Stand 25. Oktober) vollständig geimpft, und knapp 70 Prozent haben zumindest eine Erstimpfung. Das aber ist noch ein ganzes Stück von dem entfernt, was als Gemeinschaftsschutz, die sogenannte Herdenimmunität, erreicht werden müsste. Modellierungen unterschiedlicher Institute kommen ziemlich übereinstimmend zu der Annahme, dass dafür eine Quote von 85 Prozent vollständig Geimpfter (zwischen zwölf und 59 Jahren) und 90 Prozent bei über 60-Jährigen notwendig wäre.
Irritationen nicht nur bei Experten
In diesen Modellen ist noch nicht die aktuelle Diskussion um eine dritte (Nach- oder Booster-)Impfung berücksichtigt. Erfahrungen, ab wann der Impfschutz nachlässt, möglicherweise unterschiedlich in den Altersgruppen, liegen erst nach und nach vor. Geimpft wird schließlich erst seit Anfang des Jahres. Da sind die bisherigen Fortschritte bei allen Anfangsproblemen durchaus eine Erfolgsgeschichte. Aber um davon ausgehen zu können, dass die Lage beherrscht ist, dürfte es nach allen ernstzunehmenden Expertisen kaum reichen.
Zudem ist zu hinterfragen, ob die aktuellen Zahlen der jeweiligen Sieben-Tage-Inzidenz ein realistisches Bild abgeben und vergleichbar sind mit früheren Zahlen. Seit Mitte des Monats sind Schnelltests nicht mehr kostenlos, Teststationen sind reihenweise abgebaut worden. Wer früher argumentiert hat, die massenhaften Bürgertests würden die Inzidenzzahlen in die Höhe treiben, müsste folglich davon ausgehen, dass die Zahlen logischerweise jetzt niedriger sind. Ob sie damit ein realistisches Bild geben, ist also fraglich.
Ganz so einfach vergleichbar sind die Zahlen allerdings nicht. Deshalb gab es durchaus gute Gründe, anderen Parametern für die Entwicklung größere Aufmerksamkeit zuzuschreiben, beispielsweise der sogenannten Hospitalisierung. Es geht also nicht mehr in erster Linie darum, wie viele Menschen sich das Virus eingefangen haben und daran erkrankt sind, sondern, wie viele davon in Krankenhäusern, schlimmstenfalls auf Intensivstationen behandelt werden müssen. Diese Änderung wird mit demselben Argument begründet, das seit Beginn der Pandemie Richtschnur der Politik ist. Zentrales Ziel ist demnach, eine Überlastung des Krankenhausbereichs zu vermeiden – und damit die Notwendigkeit einer Triage. Bilder, wie sie uns zu Corona-Beginn aus Bergamo erreicht hatten, sollte es in Deutschland niemals geben.
Es hat sich allerdings schnell gezeigt, dass diese „Hospitalisierungsrate" alles andere als eine klare Auskunft über das Geschehen gibt und zudem nach Ansicht von Kritikern ohnehin erst zu einem viel zu späten Zeitpunkt ansetzt.
Wenn Grundpräventionsmaßnahmen wie Maskenpflicht und Mindestabstand weitgehend bis auf ganz wenige Ausnahmen aufgehoben sind, ebenso Nachweise zur Kontaktnachverfolgung, ist es schwer, Entwicklungen einigermaßen im Griff zu behalten. Ob die steigende Sieben-Tage-Inzidenz eine direkte Folge der weitreichenden Lockerungen und des Wegfalls der kostenfreien Bürgertests ist, kann zumindest wegen der zeitlichen Abläufe vermutet werden. Bis aber derart Erkrankte womöglich im Krankhaus landen, verstreichen noch mal ein paar Tage, ohne dass irgendwelche Warnstufen Vorsichtsmaßnahmen auslösen würden.
Recherchen über Baden-Württemberg, wo eine etwas komplizierte Art von Hospitalisierungs-Ampel eingeführt wurde, haben ergeben, dass viele Krankenhauspatienten gar nicht als Corona-Patienten erfasst wurden, wegen unterschiedlicher Erfassungen von positivem Corona-Test und Krankenhausaufnahme. Andere Recherchen haben ergeben, dass die vom RKI veröffentlichten Hospitalisierungszahlen wohl zeitweise nur die halbe Wahrheit dargestellt haben, die Rate also in Wirklichkeit doppelt so hoch war. Kritik an der Datenqualität gab es umgekehrt auch bei der Zahl der Impfungen, die, wie vom RKI selbst veranlasste Untersuchungen ergeben haben, deutlich höher sein dürfte als die offiziell gemeldete.
Parlament trifft Entscheidung
Bei derartigen Ungereimtheiten der Datenqualität, egal, ob bei Inzidenz-, Hospitalisierungs- oder Impfzahlen, stellt sich schon die Frage, worauf sich ein politischer Vorstoß gründet – wie eben der nach einem Ende der epidemischen Notlage von nationaler Tragweite.
Bei Experten gibt es jedenfalls ein verhältnismäßig einhelliges Bild der Skepsis. Beachtenswert vor allem, dass ausgerechnet der Leiter des Intensivregisters der Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) von einem „falschen Signal" spricht. Wer die Berichte von Intensivpflegerinnen und -pflegern auch aus den eher entspannteren Zeiten kennt, weiß, dass man diese Hinwei se aus diesem Bereich außerordentlich ernst nehmen sollte.
Eine epidemische Lage von nationaler Tragweite stellt der Bundestag fest, wenn eine ernsthafte Gefahr für die öffentliche Gesundheit in der gesamten Bundesrepublik besteht. Das ist ein ziemlich unbestimmter Begriff, der einigen Interpretationsspielraum zulässt. Die Feststellung ist die Grundlage für weitreichende Maßnahmen und Einschränkungen. Erstmals festgestellt und beschlossen wurde diese Ausnahmesituation im März vergangenen Jahres, dann immer wieder verlängert, zuletzt im August für weitere drei Monate bis 25. November.
Der Vorstoß zur Beendigung hat nicht nur Debatten zwischen Befürwortern und Gegnern aus fachlicher Sicht auf den Plan gerufen. Politisch macht bereits das Gespenst von einem neuen Flickenteppich unterschiedlichster Regelungen die Runde. Schon jetzt ist in den Ländern Unterschiedlichstes möglich: von vollen Stadien bis zu strikten 2G-Regelungen und allen dazwischen denkbaren Varianten. Vor allem aber stehen jetzt auch Weihnachtsmärkte auf der Tagesordnung.
Und ein Regierungswechsel. Nach den selbsterklärten Zeitplänen der Ampel-Verhandler sollten die Koalitionsvereinbarungen Ende November in der Schlussredaktion liegen.
Noch-Gesundheitsminister Spahn hätte seinem Nachfolger oder seiner Nachfolgerin damit noch eine besondere Anfangsaufgabe auf den Tisch gelegt. Die Entscheidung liegt allerdings beim Parlament.