Seine Wasseranwendungen machten Sebastian Kneipp berühmt, doch Kneippen ist weit mehr als das. Heute ist seine ganzheitliche Therapie aktueller denn je. In diesem Jahr jährt sich der Geburtstag des Naturheilkundlers zum 200. Mal.
Sebastian Kneipp war seiner Zeit voraus. Er war ein Universalgenie in Sachen Naturheilverfahren. Er entwickelte eine ganzheitliche Therapie, die auf fünf Säulen basiert: Wasseranwendungen, Heilkräuter, Bewegung, gesunde Ernährung und Lebensordnung – der heutigen Work-Life-Balance. Körper, Geist und Seele gehörten für ihn immer zusammen. Seit 2016 zählt das Kneippen als „traditionelles Wissen und Praxis nach der Lehre Sebastian Kneipps" zum geschützten immateriellen Kulturerbe der Unesco.
Kneipp wurde am 17. Mai 1821 in Stephansried im Allgäu geboren. Er wuchs in ärmlichen Verhältnissen in einer Weberfamilie auf. Schon früh hatte er den Wunsch, Priester zu werden. Im nahe gelegenen Ort Grönenbach versuchte er, als Knecht Geld für sein Studium zu verdienen und lernte den Ortspfarrer und Botaniker Christoph Ludwig Köberlin kennen, der ihn in die Pflanzenheilkunde einführte. Der Kaplan des Ortes, Matthias Merkle, unterrichtete ihn in Latein und bereitete ihn auf den Besuch eines Gymnasiums vor. Kneipp begleitete seinen Unterstützer Merkle nach Dillingen in Bayern, machte 1848 das Abitur, begann Theologie zu studieren und zog nach München.
Nur ein Jahr später erkrankte er an Tuberkulose und war immer häufiger nicht in der Lage, an den Lehrveranstaltungen teilzunehmen. Nachdem Kneipp in einer Bibliothek zufällig ein Buch des Arztes Johann Siegmund Hahn über die Heilkraft des Wassers entdeckte, folgte er dessen Empfehlungen. Warm angezogen ging er schnellen Schrittes, um den Körper zu erwärmen, dreimal pro Woche zur Donau, tauchte ohne Kleidung in den kalten Fluss, streifte das Wasser lediglich ab, zog sich wieder an und ging schnell zurück in seine Unterkunft, um sich auszuruhen. Nach einigen Wochen besserte sich Kneipps Zustand. „Wenn es für mich – nachdem alles Angewandte nicht geholfen – ein Heilmittel gibt, so wird es das Wasser sein", erklärte Kneipp. Nach dem Mediziner und Naturheilkundler Hans Gasperl geschah der damalige Heilerfolg im Rahmen der Eigenregulation des Körpers. Nach Kneipps Tod wurde bei der Obduktion eine eindeutig ausgeheilte Tuberkulose festgestellt.
1852 wurde Kneipp – völlig genesen – im Augsburger Dom zum Priester geweiht. Er achtete auf sich selbst, auf die Menschen um ihn herum, lernte und eignete sich das Wissen für seine Therapie an. Schon als Student behandelte er Kommilitonen und später zahlreiche Kranke mit Gicht, Lungenerkrankungen und Cholera erfolgreich mit seinen Wasseranwendungen. Diese sind zwar seit der Antike bekannt, aber Kneipp hat sie über Jahrzehnte weiterentwickelt und wendete sie selbst regelmäßig an.
Zudem schuf er ein umfassendes Naturheilverfahren, basierend auf den Säulen der Wasseranwendungen, Kräuterheilkunde, Ernährung, Bewegung und seelischer Ausgeglichenheit. Die einzelnen Bestandteile greifen ineinander und ergänzen sich. Mit knapp 34 Jahren ging Sebastian Kneipp 1855 als Beichtvater ans Dominikanerinnenkloster nach Wörishofen. Er baute die Landwirtschaft des Klosters auf, brachte den Schwestern das Veredeln von Bäumen und die Imkerei bei und unterrichtete Waisenkinder.
Von Schulmedizin erst spät beachtet
Da sich inzwischen über Europa hinaus herumgesprochen hatte, dass der Pfarrer Kranke behandelt, kamen in den folgenden Jahrzehnten immer mehr Hilfesuchende zu ihm, Mittellose wie Wohlhabende. „Wer selbst in Not und Elend saß, der weiß Not und Elend des Nächsten zu würdigen", schrieb Kneipp in der Einleitung seines Buches „Meine Wasserkur". Wörishofen war dem Ansturm von Tausenden von Hilfesuchenden kaum gewachsen. Neue Gebäude, Gasthäuser, Gaststätten, eine Bahnlinie nach München wurden gebaut – und Wörishofen 1890 zum Kurort ernannt.
Wenn die Kranken nicht zu ihm kommen konnten, fuhr Kneipp zu ihnen. Darunter waren die Kaiserin Eugénie von Frankreich, Kaiserin Sisi von Österreich, ein Maharadscha aus Indien sowie der Erzherzog Joseph von Österreich, ein Freund und Förderer Kneipps. Auch Papst Leo XIII., der Kneipp zum Monsignore ernannte, gehörte zu seinen Patienten.
Trotz allen Erfolgen blieben die Anfeindungen nicht aus. Zahlreiche Apotheker und Ärzte zeigten ihn wegen Kurpfuscherei an und forderten, dass er sich nicht in die Medizin einmischen solle. Doch es kamen auch Ärzte, die sich für Kneipps Therapie interessierten und von ihm lernen wollten. Fritz Bernhuber aus Türkheim, Mediziner und Mitstreiter Kneipps, wurde der erste Badearzt. Unter seinem Vorsitz wurde 1894 der „Internationale Verein Kneipp’scher Ärzte" gegründet. Damit wurde die Lehre von Pfarrer Kneipp von der Schulmedizin beachtet und bis heute weiterentwickelt. Nach längerer Krankheit starb Sebastian Kneipp am 17. Juni 1897 im Alter von 77 Jahren an den Folgen eines Tumors.
Das Erbe seiner lebenslangen Studien übergab Sebastian Kneipp Anfang der 1890er-Jahre dem Würzburger Apotheker Leonhard Oberhäußer und übertrug diesem die Rechte, seine pharmazeutischen und kosmetischen Produkte in seinem Namen herzustellen und zu vertreiben. Damit war die heutige Firma Kneipp gegründet, die seit 130 Jahren besteht. Allein mehr als 160.000 Mitglieder in den deutschen Kneipp-Vereinen bekennen sich zu den Ratschlägen von Pfarrer Kneipp und gestalten ihr Leben nach seinen Empfehlungen. Viele integrieren die Anwendungen, die leicht zu Hause auszuführen sind, in ihren Alltag, andere nutzen ihren Urlaub, um ausgiebig zu kneippen. In zahlreichen Gesundheitszentren und gesundheitsorientierten Wellnesshotels wird Kneippen weiterhin und wieder praktiziert.
„Kneippen ist nie ganz in Vergessenheit geraten, ist aber durch den Rückgang der finanzierten Kuren weniger angewendet worden", sagt Professor Andreas Michalsen vom Institut für Sozialmedizin an der Charité Universitätsmedizin und Chefarzt am Immanuel Krankenhaus Berlin, Abteilung Naturheilkunde. Die von Kneipp entwickelten fünf Säulen hätten die Naturheilkunde maßgeblich geprägt. Zahlreiche Studien bestätigten längst die Wirksamkeit des Kneippens.
Laut Michalsen war Kneipp der Erste, der individualisierte Therapien angeboten und psychosomatische Beschwerden erkannt hatte. Die Anwendungen nach Kneipp hätten keinen schnellen Effekt, wirkten aber wie fein aufeinander abgestimmte Rädchen ineinander und sehr nachhaltig. „Da Kneippen das Immunsystem stärkt und auch gegen Stress hilft, passt es sehr gut in unsere Zeit", sagt der Mediziner.
Die Wassertherapie, die Hydrotherapie, ist das Herzstück des Kneippens. Sie bietet rund 100 verschiedene Anwendungen mit kaltem und warmem Wasser. Beispielsweise wird durch die Berührung mit kaltem Wasser dem Körper Wärme entzogen und er muss diese selbst erzeugen. Dabei wird die Durchblutung angeregt, was sich positiv auf Heilungsprozesse und das Immunsystem auswirkt. Um eine positive Reaktion oder eine Regulation zu erzielen, gibt es für die Anwendungen einige Grundregeln. Akute entzündliche Krankheitsprozesse erfordern eher Kaltreize, chronische sind besser durch Wärme zu behandeln.
Kaltes Wasser regt Durchblutung an
Die Kneipp-Waschungen gehören zu den mildesten Anwendungen der Wassertherapie. Regelmäßig durchgeführt, bewirken Waschungen eine Harmonisierung im vegetativen Nervensystem. Ebenso stabilisieren sie den Wärmehaushalt, der bei rheumatischen Erkrankungen wichtig ist. Außerdem stärken sie das Immunsystem und können als gezielte Maßnahme verdauungs- und schlaffördernd oder auch fiebersenkend angewendet werden.
Ebenfalls gut zu Hause machbar sind die Kneipp-Güsse mit einem Wasserschlauch. Knie- und Schenkelgüsse wirken auf Blase und Organe im Bauchraum. Arm-, Oberkörper- und Rückenguss sprechen die Organe des Atmungs- und Herz-Kreislaufsystems an. Temperaturansteigende Nackengüsse sind wirksam bei Verspannungen. Zur Wassertherapie zählen außerdem noch Wassertreten, Arm,- Sitz-, Teil- und Vollbäder, Wickel und kalte und warme Packungen.
Die Pflanzenheilkunde war für Pfarrer Kneipp keine Alternative, sondern eine sinnvolle Ergänzung der Wasseranwendungen. Heilpflanzen in Tees, Bade- und Inhalationszusätzen oder als Auflagen und Wickel verstärken den Effekt der Wasseranwendungen. Die pflanzlichen Wirkstoffe, beispielsweise von Linden- und Lavendelblüten, Baldrian, Rosmarin und Arnika, schützen vor Erkrankungen und lindern Beschwerden.
Lehre entspricht Work-Life-Balance
Eine ausgewogene gesunde Ernährung gilt heute wie zu Kneipps Zeiten als Voraussetzung für körperliches Wohlbefinden. Pfarrer Kneipp empfahl eine gesunde und natürliche Kost, um dem Körper die notwendigen Mineralien, Spurenelemente und Vitamine zuzuführen. Schon vor über hundert Jahren war er ein Verfechter der Vollwertkost. Kneipp riet seinen Patienten, viele Vollkornprodukte, viel Gemüse und Obst zu essen, dafür aber wenig Fleisch, Kaffee und Alkohol zu sich zu nehmen.
Zur ganzheitlichen Therapie von Kneipp gehört auch ausreichend Bewegung, um das Herz, den Kreislauf, die Leistungsfähigkeit und das Immunsystem des Körpers zu stärken. Kneipp empfahl vor allem Ausdauersportarten wie Radfahren, Schwimmen, Joggen und Wandern. Aber auch Gymnastik oder ein ausgiebiger Spaziergang an der frischen Luft fördern die Gesundheit und helfen, Stress abzubauen.
Die fünfte Säule der Kneipp-Therapie entspricht der heutigen Work-Life-Balance. Kneipp erkannte, dass seelische Konflikte zu psychosomatischen Beschwerden führen und die Ursache für Krankheiten sein können. Auch ein gesunder erholsamer Schlaf ist essenziell für die Funktion von Immunsystem, Stoffwechsel und Hormonen sowie für die Leistungsfähigkeit und das Wohlbefinden. Eine aktuelle Studie der Ludwig-Maximilians-Universität München belegt, dass das ganzheitliche naturheilkundliche Therapie-Konzept nach Sebastian Kneipp bei Schlafstörungen hilft.