Der amerikanische Regisseur Todd Haynes spricht im Interview über seinen Dokumentarfilm „The Velvet Underground", New Yorks Avantgarde-Szene, Queerness, sexuelle Befreiung, erotische Vergnügen und warum er Sigmund Freud so schätzt.
Mr. Haynes, Sie haben einen Dokumentarfilm über die legendäre US-Band The Velvet Underground gemacht, von der es jede Menge Fotos, aber kaum Filmmaterial gibt …
… was natürlich große Schwierigkeiten bereitet hat, aber auch eine große Herausforderung war. Manchmal kann ein solcher Mangel auch nützlich sein, da man sich dann auf das Wesentliche konzentriert.
Schwierig, wenn der Bandleader Lou Reed tot ist, ebenso die Chanteuse Nico, der Lead-Gitarrist Sterling Morrison und auch Mentor Andy Warhol, der die Band damals auf den Weg gebracht hat.
Das ist richtig. Aber die Drummerin Maureen Tucker und John Cale kommen im Film zu Wort. Vor allem Cale hat den Sound von The Velvet Underground in den ersten Jahren entscheidend mitgeprägt. Außerdem habe ich noch einige andere Wegbegleiter interviewt, die damals in New York die Szene hautnah miterlebt und zum Teil mit gestaltet haben. Natürlich haben wir auch umfangreiches Material gesichtet und Quellen studiert. Wir sind zum Beispiel ins Warhol-Museum nach Pittsburgh gefahren. Dort hat man freundlicherweise die Archive für uns geöffnet, und wir konnten etliches verwerten – darunter so manches, das sogar einem echten Velvet-Underground-Aficionado noch nicht bekannt war. Mein Film ist insofern auch eine Hommage an die Zeit Mitte der 60er-Jahre, in der in New York die künstlerische Avantgardeszene geradezu explodiert ist. Genau dieses kreative, progressive, experimentelle und hoch subversive Klima war die Voraussetzung dafür, dass The Velvet Underground überhaupt entstehen konnte.
Damals wurden die Songs von The Velvet Underground nicht im Radio gespielt, die LPs aus vielen Plattenläden verbannt und die Band von der Plattenfirma nicht promotet. Auch liebte es die Band – mitten in der Flower-Power-Euphorie – das Publikum mit kakofonischen Auftritten zu schocken, zum Beispiel mit Stücken wie „The Black Angel’s Death Song". Was machte für Sie den Reiz aus, in diese Subkultur einzutauchen?
Ich fühlte mich schon von jeher von der, wie man heute sagt, Counterculture angezogen. Und ich habe mich immer sehr für die Queerness, für die vielen Wunderlichkeiten und das Anderssein von Menschen interessiert. Übrigens bezeichnet Queerness für mich viel mehr als nur Homosexualität. Ich habe mich sehr für den kulturellen und künstlerischen Kontext interessiert. Und für die Künstler, die Konventionen infrage stellten und gegen sie aufbegehrten. Wie gerade auch Andy Warhol mit seiner Factory-Philosophie, seinen Underground-Filmen, seinen Bildern und natürlich auch The Velvet Underground mit ihrer Musik und ihrem Auftreten.
Brian Eno von Roxy Music meinte, die Velvet-Underground-Platten seien damals zwar nur von 5.000 Leuten gekauft worden, aber jeder davon habe dann eine Band gegründet.
Velvet Underground hat sicher sehr starken Einfluss gehabt, darunter auf David Bowie, Iggy Pop, Patti Smith, Roxy Music und auch auf den Punkrock. Ich habe Velvet Underground erst Anfang der 80er-Jahre entdeckt, als ich auf dem College war. Also gute zehn Jahre nach ihrer Auflösung. Wenn Sie wollen, können Sie „The Velvet Underground" als Prequel zu meinem Film „Velvet Goldmine" sehen. Ein Film, in dem ich mich mit der Zeit des Glamrock befasst habe.
„Glamrock war ein radikaler Unfall in der Popkultur", sagten Sie mal …
Ja, Glamrock war ein verrückter theatralischer Kunstgriff, mit dem zum Beispiel David Bowie all diese wunderbaren Kunstfiguren wie Ziggy Stardust oder Aladdin Sane erfinden konnte. Und er ermöglichte es Iggy Pop, Lou Reed, Marc Bolan und einer Handvoll anderer Künstler, mit ihren Songs ein ganz neues Publikum zu finden. Vielen dieser Glamrock-Stars gelang es, Identitäten aufzubrechen. Sie rebellierten gegen sexuelle Unterdrückung und machten das Anderssein, das Camp-Sein, sehr sexy. Das hatte eine sehr befreiende Wirkung auf junge Leute, die sich außerhalb der gesellschaftlichen Konventionen bewegten. Die sich im Alltag wie Aliens fühlten, auch wegen ihrer sexuellen Orientierung. (lacht) Abgesehen davon war dieses Glamrock-Phänomen das reinste erotische Vergnügen.
Wie haben Sie versucht, die Magie der Musik im Film einzufangen?
Film ist ein visuelles Medium. Und wenn man einen Film über Musik und Musiker macht, ist es sehr wichtig eine Bildsprache zu finden, die dem Thema gerecht wird. Die sich einlässt auf die Emotionen, die die Musik freisetzt. Die aber auch das narrative Element, nämlich eine Geschichte zu erzählen, nicht vernachlässigt. Das habe ich jedenfalls mit diesem Film versucht, wie auch mit „Velvet Goldmine" und mit meinem Bob-Dylan-Film „I’m Not There". Dabei muss man natürlich auch dem Zeitgeist und dem Umfeld, in dem das Ereignis stattfindet, seine Reverenz erweisen.
Also auch die Energie der Band einfangen und sie mit der New Yorker Kunstszene synchronisieren?
Ich habe versucht, dem Zuschauer das Gefühl zu geben, dass er auf eine Reise gehen kann, bei der ihn die Musik und die Bilder begleiten und in die richtige Stimmung, in den richtigen Bewusstseinszustand versetzen. Dabei kam es mir nicht so sehr auf das gesprochene Wort an. Obwohl es im Film auch sehr erhellende Interviews gibt. Das war ein schwieriger Balanceakt. Aber ich bin sehr froh, dass ich mir die Freiheit genommen habe, mit diesen Dingen zu experimentieren.
Sie haben längere Zeit selbst in New York gelebt. Gibt es im Film auch einen persönlichen Anklang an diese Zeit?
Nach dem College bin ich nach New York gezogen, und das war eine sehr prägende Zeit für mich. Damals gab es dort eine sehr lebendige und aufregende Kunstszene. Es war auch der Beginn des Independent-Kinos, das mich natürlich sehr fasziniert hat. Und viele Filmemacher in der Avantgardeszene, die den Status quo in fast jeder Hinsicht infrage stellten und versuchten, eine neue Formsprache zu entwickeln. Wie zum Beispiel David Lynch, der mich damals sehr beeindruckt hat. In meinem Film „The Velvet Underground" wollte ich durchaus auch von diesen Erfahrungen etwas einbringen. Die Aufbruchstimmung zeigen und wie wichtig Teamwork ist, über alle Genregrenzen hinweg. Wenn wir Veränderungen wollen, müssen wir sie selbst herbeiführen. Und nicht darauf warten, dass es jemand für uns richtet.
Ihr nächstes Projekt wird ein Biopic über die Sängerin Peggy Lee sein. Wie passt das in den von Ihnen gerade beschrieben Kontext?
Peggy Lee ist ebenfalls eine Ausnahmeerscheinung im amerikanischen Showbusiness. Sie war nicht nur eine fantastische Sängerin, sondern auch eine sehr charismatische Frau. Sie hatte wohl eine geradezu magische Bühnenpräsenz. Außerdem hat sie ihre Sexualität im Stil von Mae West unverhohlen ausgelebt, und das im prüden Amerika der Nachkriegszeit. Peggy wird übrigens von der fantastischen Michelle Williams dargestellt.
Auf den ersten Blick haben Sie ziemlich unterschiedliche Filme gedreht. Aber haben diese Filme nicht auch etwas gemeinsam?
Das ist eine gute Frage. Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht … Aber ich glaube, alle meine Filme stellen die Konformität etablierter Gesellschaftssysteme infrage. Und sie stellen sich gegen Repressalien und Regulierungen, die unser aller Leben schwer machen. Der von mir sehr geschätzte Rainer Werner Fassbinder sagte einmal: „Du kannst dem Zuschauer nicht die Revolution geben, aber du kannst ihnen die Gegebenheiten aufzeigen, aufgrund derer eine Revolution nötig ist." Für mich ist das eine Revolution des Denkens, des Geistes, eine Revolution, die das eigene Leben betrifft und einem dabei hilft, selbstgewählte Entscheidungen zu treffen. Wenn man diese wichtigen Anliegen im Kino als Spektakel abhandelt, nimmt man den Zuschauern die Möglichkeit, daraus ihre eigenen Schlüsse zu ziehen. Auch deswegen liebe ich das Melodrama. Denn da gibt es meist kein Happy End. Man verlässt diese Menschen am Ende des Films oft gebrochener und zerstörter, als man ihnen zu Beginn begegnet ist. Ich halte gar nichts davon, im Film Antworten zu geben.
Haben Sie noch ein Lieblingsprojekt in der Schublade?
Ich muss unbedingt noch einen Film über Sigmund Freud machen, bevor ich aufhöre. Denn Freud ist auch heute noch sehr relevant: Fremdenhass, Autoritarismus, Unterdrückung, Fundamentalismus … all das hat Freud vorausgeahnt. Und das ist nur ein kleiner Ausschnitt seines Denkens. Zu Freud kehre ich immer wieder zurück. Und Freud ist auch so wunderbar filmisch: Da gibt es Träume, Lust, Verdrängung, Sex, Kindheit, Ängste … Dafür ist das Medium Film ja geradezu gemacht! Das Unterbewusstsein rückte ja ungefähr zur der Zeit in den Fokus, als auch das Kino aufkam. Wenn das kein Zeichen ist …