Ein möglichst breites Publikum erreichen und die erstaunliche Bandbreite einer Kunstform zeigen – das ist Ziel des Festivals „Zeit für Zirkus". Es findet deutschlandweit in 13 Städten statt.
Celloklänge ziehen durch das Halbdunkel, eine orientalisch anmutende Melodie. Gesang kommt hinzu, schnell entwickelt sich daraus ein hypnotischer Soundteppich. Die perfekte Begleitung für das, was sich jetzt auf der Bühne im Q-Space abspielt. Rund um eine Metallskulptur, die durch Verstrebungen zusammengehalten wird, haben sich fünf Akteure versammelt. Wagen sich an, in und auf das Objekt, was freilich durch seine Konstruktion erhebliche Körperbeherrschung und ein ausgeklügeltes Zusammenspiel erfordert. Jede Balance, jede Rolle durch oder im Inneren des Objekts verändert dessen Bewegungsrichtung, was von den Akrobaten „vorweggedacht" werden muss.
„Impossible Tasks" – dieses Motto haben Elizabeth Williams und Howard Katz von Q-Space in Berlin-Pankow ihrem Work in progress „Homoinventus" zugrunde gelegt. Denn die Metallobjekte, mit denen sie arbeiten, sind, wie die beiden selbst sagen, „unberechenbare Skulpturen". Und sie stellen für die mit ihnen agierenden Künstler eine ganz besondere Herausforderung dar. Die können hier allerdings auch experimentieren, fernab von gängigen Bildern, die man sonst mit Zirkus-Akrobatik verbindet.
Zeitgenössischer Zirkus als eigene Kunstform
Die in Berlin arbeitenden Zirkuskünstler Liz Williams und Howard Katz sind nur zwei Protagonisten einer ständig wachsenden Community. Die beiden kommen ursprünglich vom Tanz, arbeiten seit Jahren daran, eine neue Sprache des zeitgenössischen Zirkus zu entwickeln, die Musikelemente mit tänzerischen Sequenzen, mit Schauspiel, Rhythmus und Akrobatik verknüpft und mit diesen Stilmitteln Geschichten erzählt. Damit stehen Liz und Howard und ihre sich je nach Produktion immer wieder neu zusammensetzenden Ensembles für eine Spielart eines Genres, das in den letzten Jahren auch in Deutschland populärer geworden ist. Und sich daran macht, unterschiedlichste Spielorte und Bühnen zu „erobern".
Dazu will jetzt auch das deutschlandweite Festival „Zeit für Zirkus" beitragen. An drei Tagen werden an insgesamt 19 Spielorten in 13 Städten neue Produktionen oder Ausschnitte aus entstehenden Stücken gezeigt, es gibt Filme und Talks. Das alles in Kooperation mit der „Nuit de Cirque" in Frankreich, die dort seit Jahren eine feste Größe im Kulturkalender darstellt. Überhaupt sei zeitgenössischer Zirkus als eigenständige Kunstform in Frankreich aber auch anderen europäischen Ländern wie Belgien, der Schweiz oder auch in Skandinavien anerkannter als hierzulande. Sagt Alice Greenhill vom Forum Neuer Zirkus, das allen in diesem Bereich Tätigen eine Plattform für Diskussionen und die Weiterentwicklung künstlerischer Ansätze bieten will. Dass das Spektrum in Deutschland dennoch schon ziemlich groß ist, wird vom 12. bis 14. November beim Festival „Zeit für Zirkus" eindrucksvoll demonstriert. Ein solch kompaktes „Schaufenster" für die Kunstform sei schon länger geplant gewesen, erzählt Alice Greenhill. Corona machte dem aber zunächst einen Strich durch die Rechnung. Doch nach dem Lockdown habe es im Rahmen des Programms „Neustart Kultur" auch erstmalig einen Fördertopf für zeitgenössischen Zirkus gegeben. Sodass in diesem Jahr eine ganze Reihe von Stücken entwickelt werden konnten – zwischen Bremen und Leipzig, Saarbrücken, Karlsruhe und Berlin. Gerade die Bundeshauptstadt sei ein gutes Beispiel für die Vielfältigkeit des zeitgenössischen Zirkus’, unterstreicht Alice Greenhill. Da reiche die Bandbreite von den ästhetisch ausgefeilten hochakrobatischen Shows im „Chamäleon" bis zum Circus Schatzinsel am Kreuzberger May-Ayim-Ufer.
Läuft man dort vom Schlesischen Tor an der Spree entlang, dann ist das rot-weiß-gestreifte Zirkuszelt schon von Weitem auszumachen – und die aufgeregten Kinderstimmen und das Lachen sind unüberhörbar. In einem Flachbau gleich neben dem Zelt hat Christine Kölbel ihr Büro und somit den perfekten Platz, um den Überblick über das, was gerade rund ums Zelt und in den Trainingsräumen stattfindet, zu behalten. An diesem Mittag geht es vielleicht noch ein Stückchen trubeliger zu, als das Team der „Schatzinsel" es gewohnt ist. Zwei Klassen einer nahegelegenen Grundschule sind im Rahmen einer Projektwoche zu Gast, mit einer kleinen Aufführung soll die fünftägige Probenarbeit enden. Eine Herausforderung auch für die routinierten Trainer der „Schatzinsel", die unter anderem aus Kanada und Italien kommen. Sich somit gut in die Kinder aus der „Willkommens-Klasse" hineinversetzen können, die teilweise noch gar kein Deutsch oder nur wenige Brocken sprechen. Doch was wäre der Zirkus, wenn nicht die geeignete Sprache, um miteinander auch ohne Worte kommunizieren zu können! Und so entwickelt sich zu rhythmischer Musik im Zelt nach und nach eine Nummer rund um das Springseil, während im Trainingssaal an einem Tanz mit Tüchern geprobt wird. Christine Kölbel ist zufrieden, trotz der schwierigen Voraussetzungen merke man schon nach drei Tagen, wie sich die Kinder zur Gruppe zusammenfänden, Spaß an der Arbeit mit Musik, Tanz oder eher sportlichen Elementen hätten. Das sei gerade nach den langen Lockdown-Monaten besonders wichtig, habe doch das Homeschooling nicht nur für Defizite beim Lernstoff sondern auch im sozialen Miteinander gesorgt. Das könne man in solch einer Zirkuswoche aber teilweise wieder aufholen.
Miteinander ohne Worte auskommen können
Die Arbeit mit Schulklassen ist nur eines der Angebote, die der Circus Schatzinsel im Programm hat. Ursprünglich aus dem Kreuzberger Standort des Kinder- und Jugendzirkus Cabuwazi hervorgegangen, liegt der Schwerpunkt nach wie vor auf einer Vielzahl von Trainingsangeboten in Zirkus- oder verwandten Disziplinen – von Einrad über Vertikaltuch bis hin zum Stepptanz. Zweimal im Jahr werden Produktionen erarbeitet, denen oft aufwendige Recherchen vorausgehen. So ging es in einem Stück um die Biografien von Bewohnern aus dem Umfeld des Zirkusgeländes, ein anderes Mal um die Geschichte der Berliner Mauer, dann wieder um das Thema Verletzlichkeit. Das physische Training sei in der Zirkus-Arbeit genauso wichtig wie das Erlernen sozialer Kompetenzen oder die politische Bildung, wenn man sich intensiver mit gesellschaftlichen Fragen auseinandersetze, betonen Christine Kölbel und ihr Kollege Joachim Scheffler. Sie präsentieren anlässlich des Festivals „Zeit für Zirkus" ihr neues Projekt – ein Mehrgenerationenstück mit dem Titel „1482".