Die Corona-Pandemie scheint den Menschen die Lust am Vereinssport geraubt zu haben. Die Entwicklung der Mitgliederzahlen ist alarmierend, vor allem der Kinder- und Jugendbereich bereitet große Sorgen.
In den vergangenen Wochen wurden ein paar interessante Zahlen veröffentlicht, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Auf den zweiten aber vielleicht schon. Da wäre zum Beispiel die Pressemeldung des Fast-Food-Riesen McDonalds, der seinen Gewinn im dritten Quartal verglichen mit dem Vorjahr um 22 Prozent auf umgerechnet 5,3 Milliarden Euro steigern konnte. Die Zahlen sind sogar noch besser als vor der Coronakrise, die den Markt nur kurz einbrechen ließ. Und dann ist da die Meldung des Streamingdienst-Giganten Netflix, der über seine genauen Zuschauerzahlen sonst ein riesengroßes Geheimnis macht, nun aber mit einem Einschaltrekord stolz an die Öffentlichkeit ging: Die koreanische Serie „Squid Game" sei mit über 111 Millionen Views die erfolgreichste Netflix-Serie der Geschichte, teilte das Unternehmen mit.
Und zu guter Letzt eine Meldung aus dem Sport: Allein im ersten Jahr der Corona-Pandemie hat der organisierte Sport in Deutschland fast 800.000 seiner knapp 27 Millionen Mitglieder verloren. Das ist in etwa so viel wie Frankfurt am Main Einwohner hat. Insider hatten zwar mit deutlich schlimmeren Zahlen gerechnet, doch auch so sind knapp drei Prozent Verlust bei den im DOSB angegliederten Vereinen ein harter Schlag. Weniger Mitglieder bedeutet weniger öffentliches Geld, das führt zu weniger Wettkämpfen, Projekten und einer schlechteren Ausstattung – was wiederum die Leute von Vereinen fernhält. Ein Teufelskreis.
Knapp 800.000 Mitglieder verloren im ersten Corona-Jahr
Die Deutschen scheinen während des Lockdowns und in den schwierigen Monaten davor und danach die Lust am Sporttreiben verloren zu haben. Und jetzt, wo die Hallen und Plätze zumindest für Geimpfte wieder überall geöffnet sind, kehren sie größtenteils nicht mehr zurück. Ob sie das gesparte Geld lieber für ein Netflix-Abo oder Fast Food ausgeben, ist natürlich nicht wirklich gesichert. Aber die Tendenz ist klar – und sie sollte auch für die politisch Verantwortlichen ein alarmierendes Zeichen sein. Der organisierte Sport ist nicht nur ein wichtiger Faktor in der Gesundheitsförderung und -prävention, er besitzt mit seinem integrierenden und sozialen Charakter auch einen enormen gesellschaftlichen Wert.
Die Pandemie habe die sich seit Jahren abzeichnende Lage noch mal verschlechtert, sagte der frühere Biathlon-Olympiasieger Frank Ullrich, „da müssen wir auch vom Bund aus Akzente setzen und können nicht alles auf die Länder abwälzen." Er selbst kann mithelfen, dass sich diesbezüglich das Blatt zum Besseren wendet, denn der SPD-Politiker hat bei der jüngsten Wahl ein Direktmandat für den Bundestag gewonnen – als Gegenkandidat des umstrittenen CDU-Rechtsaußen Hans-Georg Maaßen. „Die Wertschätzung für den Sport ist aus meiner Sicht extrem verloren gegangen, da müssen wir Akzente setzen. Da habe ich viel vor", ergänzte der langjährige Bundestrainer im Biathlon und Skilanglauf: „Da haben wir ganz dicke Bretter zu bohren." Mit ein, zwei Stunden Schulsport in der Woche sei es „perspektivisch nicht getan".
Wenn der Schulsport denn überhaupt stattfindet. In der Coronakrise wurde er oft als erstes gestrichen, wenn es um Hygiene-Konzepte an Schulen ging. Überlegungen, wie man Körperübungen statt in der stickigen Halle an frischer Luft ausüben kann, gab es in dieser Zeit kaum. Wenn schon in Schulen nicht die Leidenschaft für den Sport entfacht wird, leiden darunter natürlich auch die Vereine. Der Rückgang der Mitgliederzahlen im Kinder- und Jugendbereich tut doppelt weh, weil der organisierte Sport (fast) eine ganze Generation verlieren könnte. Jedes vierte Kind im Alter von bis zu sechs Jahren meldete sich 2020 von einem Verein ab. Auch bei Kindern bis 14 Jahre lag der Rückgang mit bis zu sieben Prozent über dem Durchschnitt.
Diese besorgniserregende Entwicklung in der Coronazeit sei ein „herber Rückschlag für Sportdeutschland", sagte DOSB-Präsident Alfons Hörmann. Da auch das erste Halbjahr 2021 „sehr schwierig" verlaufen sei, weil „unsere Vereine ihre Angebote nicht oder nur deutlich eingeschränkt durchführen konnten", steht für Hörmann fest: „Unser Land muss jetzt wieder voll in Bewegung kommen." Aber wie?
„Wir hoffen, mit unseren Kampagnen einen Beitrag zur Bewältigung der herausfordernden Situation leisten zu können", sagte die DOSB-Vorstandsvorsitzende Veronika Rücker. Der Schwerpunkt liegt dabei klar auf dem Kinder- und Jugendbereich. So startete die Deutsche Sportjugend am 2. Oktober gemeinsam mit dem Bundesministerium für Familien, Soziales, Frauen und Jugend (BMFSFJ) die Aktion „MOVE", mit der Heranwachsende nach der langen Zeit des Bewegungsmangels wieder zu körperlichen Aktivitäten animiert werden sollen. Die auf die Kombination von Musik und Sport abzielenden Projekte sollen genau diese Zielgruppe ansprechen.
Weitere Kampagnen des DOSB sind das bereits seit Mai laufende „Comeback der Bewegung" und das „Comeback der Gemeinschaft". Bei diesen Mitmach-Projekten sind die Verbände und Vereine stark involviert, denn sie sind es, die an der Basis für neue Mitglieder, Rückkehrer und auch ehrenamtliche Helfer, deren Zahl ebenfalls deutlich zurückgegangen ist, werben müssen. Für all das brauchen die Vereine aber nicht nur gute Argumente, sondern auch Geld. Hier soll die Kampagne „#SupportYourSport" helfen, bei der Spenden auf einer Crowdfunding-Plattform gesammelt werden. Und das geht so: Ein Verein hat eine Idee für ein Projekt zur Mitgliedergewinnung, er stellt es auf der Plattform vor und wirbt so um finanzielle Unterstützung. Auf diese Weise sind bereits über 330.000 Euro an Vereine ausgeschüttet worden, als eine Art „Hilfe zur Selbsthilfe".
Aber reicht das? „Damit solche Kampagnen auch nachhaltige Auswirkungen haben", sagte Rücker, „muss die Bedeutung von Bewegung und Sport in unserer Gesellschaft insgesamt gestärkt werden." Ein Blick ins Nachbarland Österreich zeigt, dass sich dort die Politik des Themas bereits deutlich stärker angenommen hat. Österreich veröffentlichte im September ebenfalls alarmierende Zahlen aus dem vergangenen Winter: Demnach ging die Zahl der in Sportvereinen angemeldeten Personen innerhalb eines Jahres von 2,15 Millionen auf 1,6 Millionen zurück. Auch hier macht vor allem der Rücklauf im Kinder- und Jugendbereich die größten Sorgen. Daher beschloss der organisierte Sport gemeinsam mit dem Sportministerium einen Maßnahmen-Katalog, der auch eine Prämie von Steuergeldern beinhaltet. Bei der Aktion „Sportbonus" erhalten die Leute bis zu 75 Prozent der Mitgliedsgebühr vom Staat zurück, wenn sie sich bis zum Jahresende bei ihren heimischen Vereinen anmelden.
Die Aktion zeigte erste Wirkung, zur Halbzeit gab es knapp 40.000 neue Mitglieder in Sportvereinen zu verzeichnen. „Unser Ziel war, mit der Aktion ‚Sportbonus‘ bis zu 100.000 neue Mitglieder für Österreichs Sportvereine zu begeistern. Wir sind auf einem guten Weg", sagte Sportminister Werner Kogler (Grüne).
Großvereine am stärksten vom Schwund betroffen
In Deutschland ist auffällig, dass die Großvereine mit zehn Prozent am stärksten vom Mitgliederschwund betroffen sind. Auch gemessen an den Sportarten gibt es zum Teil große Unterschiede. Die Eiskanal-Sportarten Bobfahren, Rodeln und Skeleton sowie der Moderne Fünfkampf verloren 13,3 Prozent an Mitgliedern, auch Karate (- 13,0), Judo (- 12,3) und Eisschnelllauf (- 10,3) zählen zu den Verlierern der Pandemie. Stark profitieren konnte dagegen das Wellenreiten mit einem Plus von 12,2 Prozent an Neuanmeldungen. Auch das Eishockey (+ 2,5), der Alpenverein (+ 1,8), Golf (+ 1,4) und Tennis (+ 1,2) verzeichneten leichte Zugewinne.
Auffallend ist zudem, dass in der Altersgruppe der 27- bis 40-Jährigen deutlich mehr Frauen als Männer ihre Mitgliedschaft gekündigt haben. „Es scheint so zu sein, dass Frauen die Angebote der Sportvereine nicht im gleichen Maße wertschätzen und sich verbunden fühlen wie die Männer", erklärte Lutz Thieme, Sportwissenschaftler an der Hochschule Koblenz, im Deutschlandfunk. Er hält die These für einen „plausiblen Erklärungsansatz", dass Frauen in der Krise in alte Rollenbilder zurückgedrängt worden seien.
Auch der Fußball hat Mitglieder verloren, der Deutsche Fußball-Bund (DFB) schaut dem schleichenden Prozess aber nicht tatenlos zu. Im Auftrag des DFB führte eine Forschergruppe unter der Leitung von Prof. Dr. Tim Meyer, dem Arzt der Nationalmannschaft, eine Studie durch, die zu der Erkenntnis kam: Beim Fußballspielen besteht ein sehr geringes Risiko für eine Corona-Infektion. Outdoor-Sportaktivitäten – auch jene mit Köperkontakt –
seien daher „eine sehr sichere Option für Sport und Bewegung während der Pandemie", fasste Meyer zusammen. Es ist klar, zu welchem Zweck die Studie in Auftrag gegeben wurde: Der Trainings- und Spielbetrieb soll gewährleistet werden – auch in der vierten Corona-Welle, die die Inzidenzzahlen zunehmend in die Höhe schnellen lässt.
Die allgemeine Tendenz zu stoppen oder gar in eine andere Richtung zu drehen, wird ein Kraftakt, der ohne politischen Willen nicht zu stemmen sein wird. Bislang ging es bei den Corona-Krisensitzungen meistens nur um das Profitum, wenn der Sport denn überhaupt einmal zum Thema gemacht wurde. Um die Sport-Basis wurde sich bislang nur sehr überschaubar gekümmert. Dabei könnte der Verein den auch durch Corona verursachten Riss innerhalb der Gesellschaft etwas kitten. Wer gemeinsam Sport treibt, Sieg und Niederlage erlebt, sich unterstützt, der feindet sich eher weniger an. Ungeachtet unterschiedlicher Standpunkte.