Mit dem größten Tennis-Indoor-Turnier der Welt feiert vom 14. bis zum 21. November in diesem Jahr erstmals Italien den beliebten Ballsport. Der Römer Matteo Berrettini will in Turin bei den Nitto ATP Finals der acht Saison-Besten zum Tennis-Weltmeister 2021 werden.
Leise, ganz leise sind hier und da Seufzer der Erleichterung zu vernehmen, dass die Saison ihrem Ende zugeht. Klingt „cringe"? Nein, „merkwürdig" im Sinne des Jugendworts des Jahres ist das nicht, wie sich junge Spielerinnen und Spieler nach diesem Jahr mit sehr wechselnden Mengen an Zuschauern, mit mehr oder weniger hohen Auflagen an den vielen Stopps der Tennistour, quer über die ganze Welt verteilt, fühlen. Mit dem Unverständnis gegenüber mehrfach erschöpften Tennisstars verhält es sich gerade ähnlich wie im moralisierenden Umgang mit Schülern, denen manch Unberufener zuruft: „Seid doch froh, dass ihr nicht mehr zuhause rumsitzen müsst und den größten Teil Eurer Tage mit vielen anderen in Klassenzimmern verbringen dürft."
Doch die Lern- beziehungsweise Arbeitsorte von Schülern respektive Ballsportlern sind in Zeiten einer Pandemie keine reinen Wohlfühl-Oasen. Andermal auch nicht so ganz. Doch für Tennisspieler, die im Zirkus der großen Profis von Event zu Event reisen, sich nicht nur wechselnden Hotels, sondern auch spezifischen Quarantäne-, Verhaltens- und Testregeln anpassen müssen, ist der Gedanke an Urlaub und Heimkommen zum Ende der Saison 2021 verheißungsvoller denn je.
Viele Spieler klagen über Müdigkeit
Nichtsdestotrotz dürfte die Freude in der Aussicht auf Überstunden gegenüber dem Drang auf Tour-Ende-Urlaub bei einigen von ihnen überwiegen, genau genommen bei exakt acht der jahresbesten Superstars. Sie harren eines Events, das ein Highlight auf das zurückliegende Jahr und ihre ganz speziellen Erfolge sowie ihre persönliche Spielerkarriere wirft. Die Rede ist vom wichtigsten Wettbewerb bei den Herren, gleich nach den Grand-Slam-Turnieren in Australien, Frankreich, England und den USA.
Potenziell Weltmeister ihrer Disziplin zu sein, wartet als Verheißung auf eine Handvoll Auserlesener, die sehr gemächlich im sogenannten „Race" zum Jahresendwettbewerb nominiert werden. Jeder Punkt zählt. Jeder will bei diesem Turnier mitspielen. Ob im Einzel- oder im Doppelwettbewerb. Besonders pikant ist die Vergabe des letzten der acht Plätze: Wenn ein Spieler oder ein Team im Laufe der Saison ein Grand-Slam-Turnier gewonnen hat und zum Saisonende noch in den Top 20 steht, so ist er beziehungsweise sind sie anstelle des achtplatzierten Spielers oder Doppels für die Weltmeisterschaft qualifiziert: Gerade heißt die WM „Nitto ATP Finals" und ist nach zwölf Jahren in London für fünf Jahre in die Hauptstadt des Piemonts, Turin, auf den Hartplatz der Mehrzweckhalle „Pala Alpitour" umgezogen.
Fortuna ist die Freundin eines Spielers, wenn er bei einem solchen Ereignis als einer der eifrigsten Punktesammler in der ATP-Wertung mitmischen darf. Und das auch noch im Heimatland, sogar in einer tennisbegeisterten Nation. Ein Genuss, dem sich in diesem Jahr vor allem Matteo Berrettini hingeben darf. Der 25-Jährige ist bereits die Nummer sieben der Welt, nur zwei Plätze hinter Rafael Nadal, acht Plätze vor Roger Federer und drei Plätze hinter Olympiasieger und ATP-Weltmeister von 2018, Alexander Zverev: Seit Corrado Barazzutti im Jahr 1978 war kein Italiener mehr so hoch in der Weltrangliste geklettert wie Matteo Berrettini, der in diesem Jahr sogar beinahe seinen ersten Wimbledon-Sieg verbucht hätte.
In Madrid gewann Matteo ein 1.000er-Masters, in London scheiterte er im Grand-Slam-Endspiel an Novak Djokovic. In Turin hat Berrettini die Chance auf eine fast ebenbürtige Revanche: Denn Djokovic gehört mit drei Grand-Slam-Siegen in dieser Saison ebenfalls zu den besten acht Tennis-Sportlern 2021, die im Pala Alpitour um den Titel des Weltmeisters kämpfen. Nachdem es für den Serben heuer weder mit dem Golden- oder Kalender-Grand-Slam noch mit dem Olympiasieg klappte, wird „Nole" nicht leicht aus dem Tour-Ende-Turnier zu werfen sein. Zumal die Spieler dort nicht sofort nach einer Niederlage ihre Koffer packen müssen: „Round Robin" heißt der Modus, nach dem jeder gegen jeden bis zum Viertelfinale, gesplittet in zwei Gruppen, kämpft. Die vier besten Absolventen der Vorrundenspiele treten im Halbfinale gegeneinander an.
Roger Federer gewann das Turnier sechs Mal
Weltranglisten-Erster wie der Serbe zu sein, heißt also nicht automatisch, Weltmeister zu werden im Tennis. Roger Federer gelang das Kunststück zur Krönung der Saison sechs Mal, so häufig wie keinem anderen Star der gelben Bälle. Die WM-Kür wird seit 1970 in einem großen Spektakel für Zuschauer und Spieler inszeniert und weltweit im Fernsehen und auf Streaming-Kanälen übertragen. Die Namen des Jahresabschluss-Events wechselten. Zwischendurch vereinten die Verbände ITF – als Organisator der Grand Slams – und ATP, Herren über die weiteren großen Profi-Turniere bei den Männern, ihre Superlativ-Saison-Ausklangs-Events zu einem gemeinsamen Ausspielen. In Deutschland und Österreich ist fürs Zuschauen aus der Ferne ein Sky-Pay-TV-Abo oder ein Sky-Streaming-Ticket erforderlich, da das Unternehmen bis 2023 die Übertragungsrechte für die größten ATP-Turniere besitzt. In Turin finden bis zu 12.000 Zuschauer Platz zum Vorort-Zusehen in der ehemaligen Olympia-Eishockey-Arena.
„Ich finde nicht die Worte, um zu beschreiben, wie glücklich ich mich in meinem Herzen fühle", sagte Berrettini, der Top-Ten-Stürmer aus der italienischen Hauptstadt, als er in Österreichs Hauptstadt beim dortigen 500er-Turnier genügend Punkte für einen Platz in Turin beieinander hatte. „Ich spiele das zweite Mal bei den Finals mit und kann es nicht glauben. Ich habe nicht davon geträumt, weil es so groß ist. Ich will mein Bestes geben", geriet der 25-Jährige in Wien ins Schwärmen.
Zverev spielt seine bislang beste Saison
Manchester, Singapur, London, Tokio – gegen Turin hatten all diese Metropolen beim Kampf um die Neuvergabe des traditionsreichen Turniers der Turniere den Kürzeren gezogen. Passend zum Finale eines Tennisjahres, in dem Italien als tennisbewegte Nation und weitere italienische Tennisspieler auf den Courts der Welt von sich reden machten: Berrettini, Jannik Sinner, Lorenzo Sonego und Lorenzo Musetti eifern mit ihren schnellen Gipfelstürmen Fabio Fognini nach, der 2019 als erster Italiener bei einem ATP-1000-Turnier auf dem Siegertreppchen stand und in die Top Ten einzog. Lorenzo Musetti gewann 2020 beim Masters in Rom als erster Spieler, der 2002 geboren wurde, ein ATP-Match und warf auf seinem Weg ins Achtelfinale beispielsweise Stan Wawrinka aus dem Wettbewerb. Heuer ging es für Musetti weiter, unter anderem bis ins Halbfinale von Acapulco, wo sich der 19-Jährige erst Stefanos Tsitsipas geschlagen geben musste. Jetzt ist er Nummer 53 der Welt: Ein Riesenerfolg nach zwei Jahren auf der Profi-Tour, aber für Turin reichten Musettis Erfolge in diesem Jahr noch nicht. Dennoch durfte er sich auf die Reise zu einem Turnier der Spitzenspieler machen, nämlich der „Next Gen", dem Tourfinale der Saisonbesten der unter 21-Jährigen in Mailand.
Die Liste für Mailand führte in diesem Jahr ein 20-Jähriger aus Südtirol an, Jannik Sinner. Der hatte allerdings auch gute Chancen, für die darauffolgende Woche ein Kurzreise-Ticket ins Piemont zu lösen. Denn Sinner siegte bis zum Oktober bereits bei vier Turnieren. Klar war aber auch, dass der Zwanzigjährige beim Tour-Ende-Turnier in Turin der „Großen" harte Konkurrenz in Hubert Hurkacz, Felix Auger-Aliassime und Casper Ruud um die letzten zwei verfügbaren Plätze hatte. Günstig war für diese vier WM-Konkurrenz-Kandidaten, dass Nadal und Dominic Thiem verletzungsbedingt Platz für die jungen Gipfelstürmer machten.
Djokovic, Vorjahres- und US-Open-Sieger Daniil Medvedev, Tsitsipas und Zverev: Diese vier Spieler durchquerten als erste die Zielgerade im „Race to Turin", sind zudem alle vier ehemalige Champions des Jahresabschluss-Wettbewerbs der weltbesten Spieler der Saison. Die deutsche Nummer eins, Zverev, ist in diesem Jahr das fünfte Mal in Folge dabei. Obwohl der Hamburger derzeit auch mit privaten Schauplätzen Schlagzeilen macht, hat er ein erfolgreiches Sportjahr hinter sich: „Ich spiele meine bislang beste Saison und bin wirklich glücklich, mich qualifiziert zu haben", sagte der 24-Jährige, für den schon 2017 das damalige „Race to London" wichtigstes Saisonziel war.
Ähnlich geht es dem Weltranglisten-Sechsten Andrey Rublev, der im März in Rotterdam das vierte ATP-500-Turnier in Folge gewonnen hatte und Olympiasieger im Mixed wurde. „Ich bin so glücklich, mich wieder mit den acht besten Spielern der Welt messen zu dürfen", sagte der Russe. „Es ist ein so einzigartiges und prestigereiches Turnier, und ich kann es gar nicht abwarten, in Turin zu spielen."
Eine ganz spezielle Saison im Tennis geht zu Ende, doch der Urlaub muss warten. An der Piazza D’Armi wird erst noch ein Weltmeister ausgespielt. Vielleicht in diesem Jahr einer aus Italien in Italien.