Vor 100 Jahren wurde der Science-Fiction-Autor, Philosoph und Visionär Stanislaw Lem im polnischen Krakau geboren. Dort werden Führungen auf den Spuren des berühmten Sohns der Stadt angeboten.
Ein Süßschnabel war er. Vor allem liebte er Halva, Sesamriegel und mit Schokolade überzogenes Marzipan. Regelmäßig besuchte Stanislaw Lem die Konditorei des Hotels „Krakowia", nachdem er morgens seine Ehefrau, die Radiologin Dr. Barbara Leśniak, zur Arbeit gebracht hatte. Mit großer Hingabe vernaschte er dort köstliche Kuchen und seine „Kremowka", die traditionell polnische Sahnetorte mit der köstlichen Gebäckcreme, geschichtet zwischen Blätterteig. Damit versüßte sich der korpulente, kleine Mann wohl die Laune und das Schreiben. Nach Kaffee und Kuchen in der Konditorei besuchte er regelmäßig das Hotel „Forum" in der Ulica Konopnicka 28, das durch seinen „Brutalismus"-Baustil Ende der 70er-Jahre für Aufsehen sorgte. Lem interessierte sich mehr für die dort ausgelegten, westlichen Zeitungen und Zeitschriften und stöberte sich durch das Neueste aus Wissenschaft und Forschung.
Schnelle Flitzer und illegale Autorennen
„Der Mann, der nach den Sternen greift", hieß es oft, wenn es um den weltberühmten Philosophen, Wissenschaftler und Science-Fiction-Autor ging. Doch Lem wollte nicht in die Science-Fiction-Schublade gesteckt werden, denn vielmehr interessierten ihn philosophische Lebensfragen. In seinen utopischen Welten thematisierte er die Fehlbarkeit von Mensch und Fortschritt. Bereits in den 1950er- und 60er-Jahren beschrieb der große Denker und Visionär, was heute längst Realität ist: Bücher, die durch Kristallbildschirme ersetzt werden, Quarzplatten als Datenspeicher oder „intelligente" Roboter.
Vor 100 Jahren, am 12.9.1921, wurde Stanislaw Lem als Sohn einer jüdischen Arztfamilie im damals polnischen Lemberg geboren. Genau genommen, einen Tag später. Seine Eltern sollen geglaubt haben, dass der 13. Unglück bringen könne, und so legten sie sein Geburtsdatum auf den 12. September. Als Jude überlebte er die deutsche Besatzung während des Zweiten Weltkrieges nur dank gefälschter Papiere.
Lem galt mit einem IQ von 180 als hoch begabtes und bald als klügstes Kind in ganz Südpolen. Doch er soll sich sehr einsam gefühlt haben, meint Monika Mazanek, die in Krakau Führungen auf den Spuren von Stanislaw Lem anbietet.
Und die schon als junges Mädchen Lems Science-Fiction-Geschichten verschlungen hat. „Ich war fasziniert davon, dass ein Mensch solch eine Vorstellungskraft hat und völlig fremde Namen und Worte erfinden kann." Lem erklärte sich mit seinen Phantastereien die Welt und seine Zeit. „Der Planet des Todes" oder „Die Sterntagebücher des Weltraumfahrers Ijon Tichy", die wissenschaftliche Fakten mit philosophisch-moralischen Problemen verknüpfen, gehören zu Klassikern der Science-Fiction-Literatur. Sein wohl bekanntestes Werk ist „Solaris", eine Geschichte von der Unfähigkeit des Menschen, mit nicht-menschlichen Intelligenzformen umzugehen. 1972 wurde sie von Andrei Tarkowski und 2002 von Steven Soderbergh verfilmt.
Monika Mazanek hat sich ausführlich mit der Biografie des großen Visionärs beschäftigt. „Er wuchs behütet auf, auch wenn die Eltern wenig Zeit für ihn hatten und viel arbeiten mussten. Ein stilles Kind, das kaum Freunde hatte. Der Junge spielte gern, sammelte vor allem mechanisches Spielzeug und Modellautos, begeisterte sich für Maschinen und Autos und wollte Ingenieur werden." Doch nach dem Krieg brauchte man Ärzte und keine Techniker. So studierte er auf Wunsch seines Vaters Medizin. Ihn interessierten aber mehr die Fächer Physik, Biologie, Kosmologie und Philosophie. Bald wurde er Forschungsassistent für angewandte Psychologie und Mitglied im Bund der polnischen Literaten. Während des Studiums blühte er auf, wurde selbstbewusst und aufgeschlossen.
In Krakau lebte Lem an drei verschiedenen Orten, zunächst mit seiner Frau und einer befreundeten Familie in einer Wohnung in der Ulica Bonerowska. Bald wurde es zu eng, und er kaufte ein Eigenheim in einem Vorort von Krakau, in Kliny. Noch einmal zog er um, in sein letztes Wohnhaus in der gleichen Straße, in der Narvik 66. Jetzt konnte er in einem eigenen Arbeitszimmer mit Bibliothek seine Ideen zu Papier bringen. Das Haus wird heute von der Familie seines Sohnes bewohnt und in Ehren gehalten.
Als Anfang der 80er-Jahre das Kriegsrecht über Polen verhängt wurde, verließ Lem seine Heimat, um in Berlin und in Wien zu leben. Erst 1988 kehrte er zurück nach Krakau. Danach entstanden nur noch wenige Kurzgeschichten.
Etwa zehn Kilometer entfernt von Kliny befindet sich der nach ihm benannte Wissenschaftspark. So wie Lem durch Spielen seine Fantasie wecken konnte, entdecken Kinder und Erwachsene hier beim physischen Erleben, wie die Gesetze der Physik, Astronomie, Geologie und Mechanik funktionieren, zum Beispiel das Fahrradfahren an einem Seil mit Lasten oder das Schaukeln, bei dem sich die Schwingungen übertragen. Über 100 Geräte zeigen Phänomene aus Mechanik, Optik, Hydrostatik, Magnetismus oder Akustik. Zurück nach Krakau, ins Szeneviertel Podgórze, in dem das Museum für zeitgenössische Kunst in der ehemaligen Fabrik von Oskar Schindler steht, hier soll demnächst ein Lem-Planet-Zentrum entstehen. Nicht weit entfernt vom Wissenschaftspark lädt ein Luftfahrtmuseum ein, den Spuren des großen Visionärs nachzugehen. Schließlich ging es in vielen seiner Bücher ums Fliegen, natürlich auch um hochfliegende Gedanken. Ebenso begeisterte sich Lem für Geschwindigkeit. Seit seiner Kindheit schwärmte er für schnelle Autos. Von seinem ersten Autorenhonorar kaufte er sich einen P70, später einen Fiat und sogar einen Mercedes 280 SE. „Auf der Ulica Zakopianka führte er illegale Autorennen mit seinen Freunden und seiner ganzen Familie. Die mussten mitfahren und sollten ihm die Fahrt noch etwas erschweren, ihm beispielsweise die Augen zuhalten oder den Gang rausnehmen", erzählt Monika Mazanek. „Halt ein" soll seine Frau laut gerufen haben. Ärger mit der Polizei bekam er nicht. Doch als Lem einmal mit einem langen Mantel, einer dunklen Sonnenbrille, seinem schwarzen Hut auf dem Kopf und einen großen Hund an der Leine spazieren ging, glaubte die Polizei, er sei ein Spion und inhaftierte ihn kurzzeitig.
Die Polizei hielt ihn für einen Spion und verhaftete ihn
An der Galeria Krakowska, einem Einkaufszentrum, würdigt ein Mural den großen Phantasten. Entworfen hat es ein Student der Schönen Künste in Krakau anlässlich eines Street-Art-Festivals im Jahre 2017. In der Ulica Józefinska 24, ist ein weiteres literarisches Graffiti zu bestaunen. „Lems Roboter" heißt es. Ein Student, Filip Kuźniarz, hat das imposante Wandgemälde dem berühmten Schriftsteller gewidmet. Die Zeichnung einer anthropomorphen Maschine und Lems Mahnung. „Am Ende werden die Leute zu gehirnlosen Dienern der eisernen Genies. Und womöglich beginnen sie, diese als Götter zu verehren". Denn Lem hatte immer wieder an den künstlichen Intelligenzformen kritisiert, dass sie kein sensorisches Empfinden besäßen. „Ein Gehirn, das aufhört zu fühlen, verkümmert. Es wird ausgelöscht. Eine Maschine mit menschlichen intellektuellen Fähigkeiten müsste ein Kind gewesen sein. Sie müsste sich verlieben können und nicht zuletzt Humor haben", sagte er 2005 in einem Interview.
Eine lange Kastanienallee führt im westlichen Teil von Krakau auf den Salwator-Friedhof. Ältere Leute, junge Familien, Mütter mit Kinderwagen pilgern den schmalen Weg zum Eingang. Autos parken, Fahrradfahrer stellen ihr Gefährt ab. Im hinteren Teil des Friedhofs wurde Stanislaw Lem beigesetzt. Er starb 2006 im Alter von 84 Jahren.
Bescheiden, so wie er es wollte. Keine große Zeremonie. Nur Freunde und Familie sollten kommen. Der geniale Denker und Visionär blieb ein skeptischer Mahner vor den vermeintlichen Errungenschaften der Technik. „Tue was du kannst und immer das Beste, was dir möglich ist", steht auf seinem Grabstein.