Welche Maßnahmen brauchen wir in den nächsten Jahren, um das Pflegesystem in Deutschland zukunftsfest zu gestalten und die Attraktivität der Pflegeberufe zu erhöhen? Hajo Hoffmann und Dr. Karl-Heinz Weber vom Pro Seniore Zukunftsbeirat zu den Herausforderungen für die nächste Bundesregierung.
Demografische Entwicklungen, innovative Wohn- und Lebensformen für Senioren, neue Erkenntnisse im Bereich der Geriatrieforschung – mit all diesen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Entwicklungen des Alterns beschäftigt sich der Pro Seniore Zukunftsbeirat. Von der neuen Bundesregierung wünscht man sich unter anderem eine bessere finanzielle Förderung beim barrierefreien Wohnen, gezieltere Maßnahmen, um Fachkräfte aus dem Ausland zu gewinnen und aktuell eine Impfpflicht für Pflegekräfte.
Hajo Hoffmann – Vorsitzender des Pro Seniore Zukunftsbeirats
Die Bevölkerungsentwicklung, insbesondere auch die längere Lebenszeit und mehr ältere Menschen, stellt eine große Herausforderung dar. Heute sind 4,3 Millionen Menschen pflegebedürftig, und davon werden 80 Prozent zu Hause gepflegt; diese Zahl wird sich nach Prognosen des statistischen Bundesamtes im Jahr 2030 auf 5,1 Millionen pflegebedürftige Menschen erhöhen.
Die bisherige Rundumversorgung zu Hause wurde größtenteils von Familienangehörigen – hauptsächlich Frauen – geleistet. Heute fehlen ungefähr 90.000 Arbeitskräfte in der Pflege; die Bertelsmann Stiftung schätzt, dass im Jahr 2030 rund 500.000 Fachkräfte fehlen könnten.
Damit ergibt sich die dringliche Notwendigkeit einer deutlichen Akquisition von Pflegekräften. Dazu müssen Pflegeberufe aufgewertet und die Arbeitsbedingungen verbessert werden, das heißt kürzere Arbeitszeiten, bessere Bezahlung, Ausgleichsmaßnahmen bei physischer und psychischer Belastung, attraktive Fort- und Weiterbildungsangebote sowie Aufstiegsmöglichkeiten. Die bestehende Aufgabenverteilung muss letztendlich reformiert werden.
In der Ausbildung für den Pflegebereich sollten die traditionellen Berufsbilder überarbeitet werden. Zudem sind auch Qualifizierungen für Pflegehilfsleistungen, hauswirtschaftliche Leistungen, Koordinationstätigkeiten notwendig. Es werden sich durch eine neue Organisation von Unterstützungsangeboten und fachübergreifender Zusammenarbeit neue Berufsfelder herauskristallisieren, die ebenso neu konzipiert und qualifiziert werden müssen. Der bürokratische Aufwand zwischen den Beteiligten muss deutlich schlanker werden, zum Beispiel durch fachübergreifende Zusammenarbeit und Vernetzung.
Die große und belastete Gruppe der pflegenden Angehörigen braucht mehr Aufmerksamkeit und Unterstützung. Diese Hilfestellung muss sich in den gesetzlichen Grundlagen der neuen Pflegeversicherung niederschlagen. Die finanzielle Unterstützung für diese Gruppe muss an finanzielle Leistungen für die stationäre Pflege angepasst werden.
Für die heimische Pflege muss entsprechender barrierefreier Wohnraum zur Verfügung gestellt werden; das beginnt bei vorhandenen Wohnungen durch eine bessere finanzielle Begleitung. Die Digitalisierung in der Pflege lässt mit neuen Technologien mehr Selbstständigkeit und Kommunikation, auch in der Verknüpfung von Dienstleistungsangeboten, in den eigenen vier Wänden zu. Mit einer Ausweitung des Wohnungsbaus und neuen baulichen Strukturen für Förder- und Unterstützungsmaßnahmen kann die Pflegequalität von Pflegebedürftigen verbessert werden; zudem werden damit die Kontaktaufnahme und ein Sicherheitsgefühl ausgebaut.
Die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Altersforschung und der Epigenetik sind kritisch für ihre praktische Umsetzung zu überprüfen. Darum sollten auch Innovationsfonds für individuelle Projekte zur Verfügung gestellt werden.
Pflege braucht Zeit, Würde, Selbstbestimmung und Humanität.
Dr. Karl-Heinz Weber – Pro Seniore
1. Angesichts der aktuellen Lage im Hinblick auf die sich in den letzten Tagen dramatisch entwickelnden Infektionszahlen erhoffe ich mir von der neuen Bundesregierung eine Initiative im Hinblick auf die Änderung des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) dahingehend, dass eine sogenannte Impfpflicht für insbesondere die Pflegekräfte geregelt wird, die sowohl im ambulanten Dienst wie auch in den stationären Einrichtungen pflege- und betreuungsbedürftige Bewohner versorgen.
Es kann meiner Meinung nach nicht sein, dass die am meisten gefährdete Personengruppe einem zusätzlichen, gleichwohl vermeidbarem Ansteckungsrisiko ausgesetzt ist, wenn sie von nicht geimpften Personen betreut werden. Angesichts der fortschreitenden Jahreszeit besteht hier ein unmittelbarer Zeitdruck, der es allerdings nicht erlaubt, so lange zu warten, bis die neue Regierung offiziell im Amt ist, sodass die die künftige Bundesregierung tragenden Fraktionen schnellstmöglich initiativ werden sollten.
Mir ist durchaus klar, dass sich hierdurch die Personalsituation in den stationären Einrichtungen weiter verschlechtern kann, was jedoch gegenüber einer Infektionswelle das geringere Übel ist.
2. Die Handlungsoptionen der künftigen Bundesregierung sind im Bereich Pflege eingeschränkt. Durch die Föderalismusreform im Jahre 2009 verblieb in der Zuständigkeit des Bundesgesetzgebers nur das Heimvertragsrecht (WBV), in dem das Vertragsverhältnis zwischen einem Einrichtungsträger und einem pflege- oder betreuungsbedürftigen Verbraucher auf der Ebene des Privatrechts geregelt ist. Hingegen ist das dem öffentlichen Ordnungsrecht unterliegende Heimrecht ausschließlich Ländersache, das heißt die künftige Bundesregierung hat hier überhaupt keine Regelungskompetenz, was letztendlich zu einer – aus meiner Sicht bedauerlichen – Zersplitterung des Ordnungsrahmens beziehungsweise der Aufsichtsregularien mit teilweise unterschiedlichen Länderregelungen geführt hat. Die Erwartung, dass die Gesetzgebungskompetenzen korrigiert werden, ist jedoch „gleich Null".
Ein wesentlicher Kompetenz- und Regelungsbereich ist freilich der künftigen Bundesregierung beziehungsweise dem Bundesgesetzgeber mit dem außerordentlich wichtigen Komplex der sozialen Sicherung bei Pflegebedürftigkeit, konkret im Bereich SGB XI (soziale Pflegeversicherung), geblieben.
Die langfristige Finanzierung der Pflegeversicherung stellt die künftige Bunderegierung vor hohe Anforderungen. Es wäre durchaus überlegens- und vielleicht wünschenswert, sich hier an einem Dreisäulenmodell aus sozialer Pflegeversicherung, privater Pflegefürsorge und betrieblicher Pflegevorsorge zu orientieren, was einem bereits seit längerem präsentierten Vorschlag der FDP entspricht. Hierdurch würde meines Erachtens eine breitere finanzielle Basis gegenüber der gegenwärtigen, nach dem Teilkostenprinzip funktionierenden Pflegeversicherung erreicht werden, wonach die Versicherung nicht alle Kosten übernimmt, da ein Anteil privat finanziert werden muss. Ziel muss es sein, dass die Eigenanteile nicht mit den zu erwartenden allgemeinen Kostensteigerungen, insbesondere Personalkosten, sich weiter erhöhen, was unter anderem auch zu zusätzlichen Belastungen der Sozialhaushalte führt.
Die künftige Bundesregierung könnte auch eine Aufgabe darin sehen, die Erlangung von Aufenthaltstiteln, die die Ausübung einer Beschäftigung von bereits qualifizierten oder noch zu qualifizierenden Pflegekräften aus Nicht-EU-Staaten erlaubt, zu erleichtern. So könnte die sogenannte Blaue Karte EU, die Akademikern aus Nicht-EU-Ländern Aufenthalt gewährt, auf Pflegekräfte ausgeweitet werden. Zudem müsste in der Praxis das Nadelöhr der langen Wartezeiten von bis zu fast zwei Jahren bei den Deutschen Botschaften beseitigt werden, was freilich weniger eine legislative, sondern vielmehr eine administrative Stellschraube wäre, die in der Verantwortung des Auswärtigen Amtes liegt.