Die Zukunft der Pflege war im Wahlkampf eher ein Randthema. Für die neue Regierung wird es aber eine der ganz großen Baustellen. Natürlich geht es dabei um viel Geld, aber auch um grundlegende Strukturen.
Besser hätte der Zeitpunkt kaum gewählt werden können. Drei Wochen nach der Bundestagswahl lief alles auf Koalitionsverhandlungen für eine Ampel hinaus. Die beste Gelegenheit also, um den wohl künftigen Koalitionären für ihren Vertrag einiges mit auf den Weg zu geben. „Das Thema Pflege hat im Wahlkampf gegenüber anderen Themen eine untergeordnete Rolle gespielt", konstatierte der Vorsitzende des Kuratoriums Deutsche Altershilfe (KDA), Helmut Kneppe, zum Auftakt des Deutschen Pflegetages Mitte Oktober. Das soll sich nun für die künftige Regierungspolitik ändern. Und dafür erhebt Kneppe eine anspruchsvolle Forderung: „Mehr Pioniergeist und Kreativität bei der Reform der Pflege".
Rückblende in die letzte Phase der Großen Koalition: Im Juni wurde eine Pflegereform beschlossen, die im Kern eine Entlastung bei Zuzahlungen im Pflegeheim, höhere Löhne und eine zusätzliche Finanzierung durch den Bund vorsieht. Damals waren Grüne und FDP noch in der Opposition und ihre Beurteilungen in der Bundestagsdebatte fielen ziemlich vernichtend aus: „Bestenfalls ein Pflegereförmchen", meinte die Grünen-Politikerin Kordula Schulz-Asche, und für Nicole Westig von der FDP war es schlicht eine „Mogelpackung". Die Kritiker von damals sitzen jetzt mit der SPD in Koalitionsverhandlungen und hätten die Möglichkeit, es besser zu machen.
Pioniergeist und Kreativität
Die FDP hatte in ihrem Wahlprogramm zum Thema Pflege einige Eckpunkte zusammengefasst: Attraktivitätssteigerung der Pflege durch mehr Bildung, bessere Karrierechancen, angemessene Personalbemessung. Pflegenden sollen Karrieren von der Assistenzkraft bis zur Professur offenstehen. Die Pflegeversicherung soll als Teilleistung bestehen bleiben und durch Kapitaldeckungselemente ergänzt werden.
An der Konzeption der Pflegeversicherung als Quasi-Teilkasko-Versicherung gibt es allerdings im Grunde seit Anbeginn heftige Kritik. Insbesondere Sozialverbände fordern eine Weiterentwicklung zu einer echten Versicherung.
Die Grünen fordern seit langem eine solidarische Pflege-Bürgerversicherung. Diese Idee war allerdings schon mit den Sondierungsgesprächen ad acta gelegt. Offen ist das noch für die Idee einer doppelten Pflegegarantie mit einer Senkung der Eigenanteile auf der einen und einer dauerhaften Deckelung der Beiträge auf der anderen Seite. Bei der Förderung von Pflegeausbildung und Pflegestudium liegen die Grünen nicht weit weg von den Vorstellungen der FDP. Und die Forderungen zur Verbesserung der Rahmenbedingungen (mehr Lohn, mehr Personal, mehr Zeit) liegen doch ziemlich eng auf SPD-Linie. Auch bei der SPD stehen eine Deckelung der Eigenanteile und bezahlbare Leistungen im Programm. Außerdem hätten sich die Sozialdemokraten eine Zusammenlegung der privaten und sozialen Pflegeversicherung zu einer solidarischen Pflege-Bürgerversicherung vorstellen können, was aber nicht durchsetzbar war.
Was sich bereits nach den ersten Papieren aus den Verhandlungen abgezeichnet hat: Es dürfte wohl Verbesserungen bei der Ausbildung geben, die auch mit beruflichen Aufstiegschancen den Pflegeberuf attraktiver machen soll. Bei den Arbeitsbedingungen soll sich einiges verbessern, Personalbemessungen sollen für Entlastung sorgen. Dazu beitragen sollen auch Entbürokratisierungen und Digitalisierung. Außerdem soll es eine Offensive für die Anwerbung qualifizierter ausländischer Pflegekräfte geben.
Das alles findet die VdK-Präsidentin Verena Bentele ziemlich „ideenlos". Der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, Ulrich Schneider, bedauert, dass sich „Punkte, die wir ganz sicher auf der Tagesordnung einer neuen Regierung sahen", in den ersten bekannten Papieren nicht wiedergefunden haben.
In einem komplexen System wie der Pflege steckt der Teufel im Detail. Erst recht, wenn Koalitionäre sich einerseits nicht auf eine ganz grundlegende Reform von Struktur und Finanzierung verständigen können, sondern auf Verbesserungen im bestehenden System aus sind. Und das bei einem Thema, das eine gesamtgesellschaftliche Frage ist. Neben den Strukturen professioneller Pflege geht es zunehmend um die Frage nach den Bedingungen pflegender Familienangehöriger.
Dass bei einem Pflegekongress Anfang des Jahres gleich drei Bundesminister einen Auftritt hatten, war nicht nur sichtbarer Hinweis auf die Wertschätzung der Arbeit von über einer Million Beschäftigter im Pflegebereich, sondern auch auf die Breite des Themas. Seinerzeit dabei waren neben dem Bundesgesundheitsminister auch die Ressortchefs für Arbeit sowie Familie.
Ausbildungszahl liegt bei 40.000
Schon damals kritisierte die Präsidentin des Deutschen Pflegerats, Christine Vogler, dass Politiker nur „in Vier-Jahres-Zyklen" agieren. Vieles werde angedacht, manches angeschoben, und das meiste dann ad acta gelegt. Es brauche aber langfristige Lösungen, zumal die Entwicklungen auch über einen längeren Zeitraum durchaus absehbar sind. Das betrifft nicht nur die demografische Entwicklung, sondern beispielsweise auch den Bereich der Beschäftigten. Demnach sei absehbar, dass in den kommenden zehn Jahren etwa 500.000 Pflegekräfte in Rente gingen. Die aktuelle Ausbildungszahl liege bei 40.000, „wenn wir gut sind", so Vogler. Allein schon dieses Delta ist offenkundig. Und da ist noch nicht berücksichtigt, dass nicht wenige in den Belastungen der Corona-Zeiten ausgeschieden sind oder sich mit Abwanderungsgedanken tragen.
Dass die Große Koalition völlig untätig gewesen wäre, lässt sich allerdings nicht behaupten. Vor ziemlich genau einem Jahr hat die „Konzertierte Aktion Pflege" einen Zwischenbericht vorgelegt, der Grundlage für etliche Verbesserungen war. Daran beteiligt waren die schon genannten drei Ministerien: Gesundheit, Arbeit, Familie. Ergebnis war unter anderem, dass Mittel für zusätzlich 13.000 Fachkräfte in der Altenpflege sowie für etwa 20.000 Hilfskräfte vom Bund bereitgestellt werden sollten. Das Problem ist nur: Der Stellenmarkt war leergefegt.
„Der Pflege hilft kein kurzfristiges Konjunkturprogramm", kommentierte seinerzeit die „Ärzte-Zeitung" die Beschlüsse und forderte ein „multimodales Strukturprogramm", das ansetzt bei Ausbildung, Qualifizierung, kluger Einwanderungspolitik und Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Also Elemente, die sich in den bisherigen Papieren als Überschriften für die Regierungsbildung wiederfinden. Entscheidend sind die Verabredungen im Detail und die Entschlossenheit zur Umsetzung.