Dave Gahan ist das Gesicht von Depeche Mode. Die düsteren bis fröhlichen Songs auf seinem aktuellen Album „Imposter" sind Coversongs von Bob Dylan, Neil Young oder PJ Harvey. Beim Zoom-Interview fällt Gahan als Erstes die Plattensammlung unseres Autors ins Auge …
Dave Gahan: An Ihrer Plattensammlung sehe ich, dass Sie ein echter Musikliebhaber sind!
Sind Sie auch Plattensammler, Mr. Gahan?
Ja, das bin ich. Ich höre mir heute wieder viel mehr Vinylplatten an als früher. Ich war nie ein großer Fan von CDs und finde das digitale Zeug recht nützlich, aber ich greife eigentlich lieber auf Alben zurück.
Wollen Sie mit dem ironischen Albumtitel „Imposter" (Hochstapler, Anm. d. Red.) sagen, dass Sie die darauf enthaltenen Songs gern selber geschrieben hätten?
Das könnte man so sagen, ja. Der Titel ist aber nur ein wenig ironisch gemeint, weil es mir beim Singen dieser Lieder sehr gut ging. Ich fühlte mich dazugehörig und sehr frei mit meiner Stimme. Ich dachte, dass ich mir meinen Platz als Sänger irgendwie verdient habe. Als wir Ende 2019 begannen, diese spezielle Sammlung aufzunehmen, gab es eine viel größere Liste von Songs, die einen gewissen Eindruck auf uns machten.
Warum covert man überhaupt?
Egal ob Mark Lanegan, Neil Young, Cat Power, PJ Harvey oder Rowland S. Howard – diesen besonderen Künstlern, ihren Stimmen und ihrem Songwriting fühle ich mich sehr verbunden. Deshalb wollte ich einmal meine eigene Stimme, meine eigenen Worte und Gefühle durch diese großartigen Sängerinnen und Sänger hören.
Sie covern Klassiker wie „A Man Needs a Maid" von Neil Young, „Always on My Mind" von Elvis Presley oder „Lilac Wine", das auch von Nina Simone und Eartha Kitt gesungen wurde. Sind das Stücke, die Sie in Ihrer Jugend beeinflusst haben?
Nein, gar nicht so sehr. Ich habe das irgendwie übersprungen. Als ich sehr jung war, spielte mein Vater, ein Saxofonist, in einer Jazz-Band. Ich habe auch viel in der Kirche gesungen. Dann wurde ich Fan von David Bowie und T. Rex. Als schließlich Punk aufkam, stand ich auf The Clash, The Damned und Siouxsie and the Banshees. Das war eine ganz andere Zeit in meinem Leben. Soul, Blues und Gospel entdeckte ich erst später.
Auf welche Weise?
Über die Stones und die Doors kam ich irgendwie zu Elmore James, John Lee Hooker, Muddy Waters, Howlin‘ Wolf, Nina Simone und Billie Holiday. „The Dark End of the Street" von James Carr ist einer meiner Lieblingssongs. Er eröffnet die Platte und sagt etwas aus über das, was noch kommt. Als Vinylliebhaber wissen Sie sicherlich, dass der letzte Song auf der ersten Seite genauso wichtig ist wie der erste. Ich schließe ein kleines Kapitel und beginne ein neues mit „Shut Me Down" und ende mit „Always on My Mind". Die Abfolge ist mir sehr wichtig, weil sie eine Geschichte erzählt, in der ich mich wohlfühle. Sie ermöglichte es mir, diese Figur Imposter zu spielen.
Wenn Sie zum Beispiel PJ Harveys „The Desperate Kingdom of Love" covern, decken Sie dann nicht erkanntes Potenzial auf?
Diesen Titel haben wir definitiv an einen anderen Ort gebracht. Pollys Gesang beim Original ist sehr zurückhaltend, ruhig und sanft. Unsere Version hingegen klingt wie eine neunköpfige Bigband, die live auf einer Bühne spielt. So haben wir diesen großartigen Song gehört. Dass Polly auch eine Sängerin ist, hat einen tiefen Eindruck auf mich gemacht. Eines meiner Lieblingsalben ist ihr „To Bring You My Love". Ich hole das Album immer wieder heraus und höre mir die Produktion und alles andere daran an.
Von Bob Dylan haben Sie sich „Not Dark Yet" vorgenommen. Kommt man dem Menschen hinter dem Originalsong auf diese Weise näher?
Nun, das ist knifflig. Ich hoffe, dass die Art und Weise meines Vortrags das Gefühl und die Stimmung des Originals einfängt. Aber ich habe es auf meine Weise interpretiert. Ich identifiziere mich sehr mit dieser Platte. „Time Out of Mind" ist eines dieser ganz speziellen Alben. Dylan hat im Lauf seines Lebens eine Menge Arbeit geleistet und ist immer noch auf der Suche nach Bestätigung, Erlösung und Vergebung. Auch mit einem Sinn für Sarkasmus. Das ist nicht nur in Bobs Worten zu hören, sondern auch in seiner Stimme. Ein Dylan-Song hat immer etwas von einer „Fuck you"-Attitüde. Er schert sich einen Dreck darum, was Leute über das, was er sagt, denken. Er wird es trotzdem sagen. Das ist Rock‘n‘Roll.
Dylan und Depeche Mode sind bei derselben Plattenfirma. Sind Sie ihm jemals persönlich begegnet?
Das bin ich nicht. Mein Freund Jerry war viele Jahre der Tourmanager von Bob. Er hat mir Geschichten über ihn erzählt und mag Bob sehr. Ich wollte durch ihn einen Kontakt zu Bob herstellen, denn ich wollte ihn wissen lassen, dass wir sein „Not Dark Yet" covern. Also fragte ich Jerry: „Gibt es eine Möglichkeit herauszufinden, ob Bob damit einverstanden ist?" Die gab es tatsächlich, und über verschiedene andere Leute hat Bob sich unsere Version anscheinend gern angehört.
Und wie hat Neil Young auf „A Man Needs a Maid" reagiert?
Ähnliches habe ich auch aus dem Lager von Neil Young gehört, was ich sehr schön fand. Ein sehr erfolgreicher Mann namens Merck (Mercuriadis, Anm. d. Red.), der seit Kurzem einen großen Teil der Songs von Neil Young und Bob Dylan verlegt, ist ein alter Freund meines Managers. Über ihn bekam ich Neils Zustimmung. Mein Freund Mark Lanegan war einer der ersten Songschreiber, dem wir unsere Version vorspielten. Wir schickten ihm einen groben Live-Mix von „Strange Religion", um seine Meinung zu erfahren. Er war davon zu Tränen gerührt und meinte, in unserer Version das zu hören, was er eigentlich versucht habe auszudrücken.
Was können Sie mir sonst noch über die Geheimnisse des Songwritings verraten?
Erst Jahre, nachdem man etwas geschrieben und aufgeführt hat, erkennt man manchmal, dass es das ist, worüber man überhaupt nachgedacht hat. Das ist eine merkwürdige Sache. Schriftsteller und Musiker wissen: Der Moment, in dem sich etwas richtig anfühlt, ist ein sehr flüchtiger. Da läuft etwas ab zwischen dir und diesem anderen Musiker. Also versuchst du, es einzufangen. Du zapfst dabei etwas an, das über dich hinausgeht. Und wenn du es in diesem Moment nicht ergreifst, wird es jemand anderes tun.
Keith Richards sagte einmal: „Eine Idee ist wie eine Radioantenne. Wenn die eine Frequenz aufnimmt und etwas empfängt, bekommst du es. Wenn du sie aber im Radio verpasst, wird Neil Young sie bekommen". (lacht) Das leuchtet mir vollkommen ein.
Kulturkritiker meinen, dass es seit den 80er-Jahren in der Popmusik nur noch abwärts ginge. Alles würde nur wiederholt, wieder erfunden, wieder verwendet, wieder verarbeitet werden und so weiter. Sehen Sie diese Entwicklung genauso pessimistisch?
Ich denke, das ist wahr. Wir huldigen verschiedenen Künstlern, die wir als Interpreten, Schriftsteller oder Musiker lieben. Das Wichtigste dabei ist, dass man den Mut hat, wirklich aus sich selbst heraus zu interpretieren und das auch zu glauben. Ab und zu hat man das Glück, dies zu schaffen. Um ehrlich zu sein macht das eine Menge Arbeit.
Wie fällt Ihr persönliches Resümee nach vier Jahrzehnten in Ihrem Beruf aus?
Ich habe das Glück, seit über 40 Jahren dabei zu sein. Musik nimmt dich mit auf eine seltsame Reise. Sie zu hören ist sehr informativ. Sie hilft mir, meinen Weg durch mein Leben zu finden. Wenn man sich zum Beispiel „Imposter" anhört, hört man nicht nur die Songs, sondern auch meine Stimme und das Zusammenspiel der Band. Man hört, wie wir darum kämpfen, etwas aus dem Moment herauszuholen. Ich denke, das ist uns wirklich gelungen. Wir haben eine lange Vorproduktion gemacht, bevor wir Ende 2019 mit den eigentlichen Aufnahmen für das Album begannen.
Und die Studiosessions dauerten wie lange?
Sie dauerten drei oder vier Wochen. Alles Live-Performances mit wenigen Overdubs wie Hintergrundgesängen. Man hört eine Gruppe von Musikern, die zusammenarbeiten, um einen bestimmten Punkt zu erreichen.
Das ist für mich sehr spannend, rein und ehrlich. Der Rest, das Leben, die Dinge, die Beziehungen, damit habe ich sehr zu kämpfen. Aber das ist okay, das tun wir alle, wenn wir wirklich ehrlich sind. Aber wenn Musik für mich funktioniert, macht alles einen Sinn.
Und wie denken Sie über die Pandemie?
Corona hat die Welt irgendwie verändert. Uns allen wurde beigebracht, dass wir nicht mehr so leben können, wie wir es gewohnt waren. Die Menschheit hatte 100 Jahre eine gute Zeit, bevor plötzlich etwas so Verrücktes und Verheerendes wie Covid-19 über sie hereinbrach. Vielleicht ist das eine echte Chance. So ist es auch mit der Musik.
Man hat diese Momente. Ich weiß, dass nicht jeder die gleiche Meinung über Musik hat wie ich. Ich fühle mich wie ein Lernender und kann kommunizieren, ohne wirklich zu sprechen. Das ist eine erstaunliche Sache. Wenn man auf der Bühne steht und all diesen Leute zuhört, ist das etwas ganz Besonderes. Ich vermisse das.
Haben Sie vor, mit den Soulsavers auf Tour zu gehen?
Es ist zurzeit schwierig, mit einer großen Gruppe zu reisen, weil es in den verschiedenen Ländern unterschiedliche Einschränkungen gibt. Aber darauf kann man sich einstellen. Wir werden vielleicht eine Zeit lang in London spielen und an verschiedenen anderen Orten einmalige Aufführungen des gesamten Albums machen.
War das Cover-Album auch eine gute Vorbereitung auf das Songschreiben fürs nächste Depeche-Mode-Werk?
Das werden wir sehen. Ich habe das Gefühl, dass ich diese Dinge auch außerhalb von Depeche Mode tun kann. Das ist jetzt schon seit vielen Jahren so und wird von mir erwartet.
Wenn ich zurückkomme, um mit Martin und Fletch zu arbeiten, gehen wir mit anderen Programmierern, Produzenten und Musikern ins Studio. Ich fühle mich dann mehr inspiriert. Wenn ich das nicht täte, würde ich es mir zu bequem machen. Ich bin schon sehr lange verheiratet. Nach 20 Jahren muss man sich schon anstrengen, um herauszufinden, wie man das aushält und das Gefühl hat, immer noch mit Leidenschaft dabei zu sein.