Nach anfänglicher Skepsis hat sich Genki Haraguchi mit guten Leistungen viel Respekt bei Union Berlin verschafft. Im Stadt-Derby tritt er nun gegen seinen Ex-Club Hertha BSC an.
Genki Haraguchi hat schon in seinem ersten Spiel für Union Berlin Fußspuren hinterlassen. Nicht unbedingt sportlich, sein Auftritt beim 1:1 zum Saisonstart Mitte August gegen Leverkusen war eher mäßig. Aber der Japaner ist seitdem eine Besonderheit in der Fußballstadt Berlin: Er ist der erste Spieler, der sowohl für Hertha als auch für Union in der Bundesliga aufgelaufen ist.
Für die blau-weiße Hertha bestritt der Offensivspieler von 2014 bis Dezember 2017 insgesamt 91 Bundesligaspiele, für die rot-weißen Unioner sind es bislang elf. Doch emotionale Gewissensbisse hat Haraguchi vor dem Stadt-Derby am Samstag (20. November/18.30 Uhr) in seiner neuen Heimat „Alte Försterei" keine. „Es wäre schwierig gewesen, wenn ich direkt zu Union gewechselt wäre", sagte er. Gefühlsmäßig verbindet ihn kaum noch etwas mit dem Club aus Westend. „Ich war Herthaner, aber jetzt bin ich Unioner", sagt er: „Ich bin kein Blauer mehr, jetzt bin ich ein Roter." Und die Roten sind darüber sehr, sehr froh.
Haraguchi hat nach etwas Anlaufzeit seinen Rhythmus bei den Eisernen gefunden. „Nach ein bisschen Anfangsschwierigkeiten ist er jetzt richtig drin", lobte auch Trainer Urs Fischer. In den beiden letzten Ligaspielen gegen Bayern München (2:5) und beim 1. FC Köln (2:2) gelang dem 30-Jährigen jeweils eine Torvorlage, zudem präsentierte er sich leichtfüßig und spielfreudig. „Ich will zeigen, dass ich die Qualität für die Bundesliga nicht verloren habe", hatte Haraguchi schon bei seiner offiziellen Vorstellung als Ziel seines Wechsels vom Zweitligisten Hannover 96 genannt.
Nicht wenige Fans hatten die Verpflichtung skeptisch gesehen. Wie soll ein Zweitligaprofi, der auch noch keinen Cent Ablöse kostet, der die 30-Jahre-Schallmauer durchbrochen hat, der einst bei Hertha nicht glücklich geworden war – wie soll so einer den Europacup-Teilnehmer verstärken? Die Verantwortlichen aber hatten daran keine Zweifel. „Er ist ein technisch versierter, häufig torgefährlicher Fußballer", sagte Sportchef Oliver Ruhner, „der uns Kreativität und Ballsicherheit bringen kann."
Technisch versierter Fußballer
Und das beweist Haraguchi aktuell sehr konstant. In allen elf Bundesligapartien kam er zum Einsatz, die meisten als Startspieler. Der Sommer-Neuzugang hat sich einen Stammplatz erkämpft, auch wenn der interne Konkurrenzkampf in der Offensive groß ist. Hinter den Spitzen ist Haraguchi derzeit nicht wegzudenken, seine Laufstärke und seine technische Klasse sind wichtig für das Team. Zudem blitzt bei ihm mitunter auch jene Genialität auf, die dem Team seit der Verletzung von Max Kruse etwas abhandengekommen ist. Haraguchi ist ein ähnlicher Freigeist auf dem Platz, auch wenn er sich deutlich mehr ans taktische Konzept hält als der Ex-Nationalspieler. „Er hat eine Klarheit im Spiel, kann immer wieder Situationen für uns kreieren", lobte Fischer seine Nummer 24. Doch nicht alles gelingt Haraguchi. Beim hart umkämpften Auswärtsspiel in Köln vergab Union bei einem Konter in Überzahlsituation die große Chance zur Zwei-Tore-Führung und damit zur Vorentscheidung, weil der Japaner den Ball nicht erfolgreich zum freistehenden Sheraldo Becker durchstecken konnte. „Wir haben tolle Kontersituationen und spielen sie nicht zu Ende. Das ist schade", sagte hinterher Andreas Luthe, ohne Haraguchi direkt zu kritisieren. Denn der hatte trotz allem eine sehr gute Leistung gezeigt.
Die Länderspielpause könnte daher zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt gekommen sein, weil sie womöglich Haraguchis Rhythmus bricht. Er war einer von fünf Nationalspielern, die Union freistellen musste – und bei Weitem der mit den größten Reisestrapazen. Mit Japan trat Haraguchi in der dritten Runde der WM-Qualifikation in Vietnam und im Oman an. Beim 1:0-Sieg gegen Vietnam wahrten Haraguchi und Co. ihre Chance aufs WM-Ticket.
Doch ab jetzt zählt erst mal wieder nur noch Union. Seit dem Sommer hat sich Haraguchi in Köpenick sehr gut eingelebt, im Team wirkt er absolut integriert und gewertschätzt. „Hertha hat mir auch viel geholfen, aber bei Union ist es besonders", vergleicht es Haraguchi: „Es ist wie eine Familie." Ihm hilft natürlich, dass in Keita Endo ein Landsmann im Kader steht. Die beiden verbringen viel Zeit miteinander – auf und neben dem Platz. „Ich habe zu ihm ein sehr gutes Verhältnis", sagt Haraguchi über Endo: „Wir können uns gegenseitig helfen."
Laut Yuzuru Okuyama, der einst als erster Japaner für Union Berlin aufgelaufen war, hätte sich Haraguchi auch ohne Endo bei den Eisernen bestens eingelebt. „Genki ist sieben Jahre in Deutschland", sagte der heute 41-Jährige der „Bild"-Zeitung: „Er weiß, wie es in der Kabine läuft." In der Tat ist die Erfahrung ein großes Plus für den Offensivmann, der in der Nachwuchsabteilung der Uruwa Red Diamonds ausgebildet wurde und nach den ersten Profi-Einsätzen den Sprung nach Europa wagte. Hertha BSC verpflichtete den damals 23-Jährigen für 500.000 Euro. Der große Durchbruch gelang ihm bei der „Altem Dame" aber nicht, und so zog es ihn nach einer Leihstation bei Fortuna Düsseldorf zu Hannover 96.
Die Erfahrung ist ein großes Plus des Japaners
Die Niedersachsen zahlten 2018 stolze 4,5 Millionen Euro für Haraguchi, der den Abstieg des Clubs ein Jahr später aber nicht verhindern konnte. Im Unterhaus zeigte Haraguchi in vielen Spielen, dass er eigentlich zu gut für diese Liga ist. Sein Spielverständnis, seine Torgefahr, seine Technik – all das machte auch andere Vereine auf ihn aufmerksam. Doch Union bekam den Zuschlag, weil Haraguchi überzeugt ist, „dass ich der Mannschaft helfen kann, erneut die Klasse zu halten" und weil der Club „in den letzten Jahren bewiesen hat, was möglich ist, wenn man hart und als Team arbeitet".
Teamwork und Haraguchi? Da schütteln einige Beobachter in Hannover den Kopf. Als sein ablösefreier Abgang bei 96 feststand, wirkte der Japaner eher wie ein starrsinniger Solist, dem das Gesamt-Orchester nicht mehr am wichtigsten war. „Jeder merkt Haraguchi an, wie sehr es ihn ärgert, was die Kollegen verbocken. Er tritt auf wie eine Diva bei der Abschiedstournee", schrieb Sportbuzzer damals in einem Kommentar: „Mit abwinkenden Gesten zeigt er zugleich seinen Ärger über Mitspieler, die weniger begabt zu sein scheinen als er. Eine natürlich gewachsene hohe Selbsteinschätzung kann auch ein Problem sein. Haraguchi ist nicht nur ein talentierter, sondern auch ein genervter Mann, wenn es nicht läuft."
Solche Worte hat in Berlin noch niemand über den freundlich, fleißig und als Teamplayer auftretenden Haraguchi gewählt. Doch eines merkt man auch hier: An Selbstbewusstsein mangelt es ihm nicht. Der Unterschied zwischen der Ersten und Zweiten Liga sei zwar groß, sagt er, „aber ich habe in der Zweiten Liga viel gelernt. Ich war sehr erfolgreich. Ich besitze nun Selbstvertrauen."
Wenn es nach Haraguchi geht, spielt er noch sehr lange für Union, in jedem Fall aber in Deutschland. Er fühle sich hier trotz der riesigen Entfernung zu seiner Heimat sehr wohl, „es ist perfekt für mich". Er nennt „die Natur, die Lockerheit, die Atmosphäre" als Wohlfühlfaktoren in Deutschland. Und dann sagt er einen Satz, der sowohl Hertha- als auch Union-Fans freut: „Berlin ist angenehmer als Düsseldorf."