Nach einer kräftezehrenden und erfolglosen Russland-Reise besteht Alba Berlin in Ulm den Charaktertest. Nun wartet in der Liga die Generalprobe für den anvisierten Pokal-Triumph.
Die 6.000 Reisekilometer nach Russland, quer durch das Riesenreich und wieder zurück nach Deutschland, schüttelte keiner so leicht aus den Beinen. Doch der kräftezehrende Trip in der Euro League sollte sich auf keinen Fall in die Köpfe der Profis von Alba Berlin einschleichen. „Natürlich haben wir auf der Reise und in den beiden Spielen ein paar Körner gelassen, aber das dürfen wir uns nicht anmerken lassen", hatte Nationalspieler Louis Olinde vor dem Auswärtsspiel bei Ratiopharm Ulm gefordert. Es sei „eine Sache des Willens", ergänzte er: „Wir waren sechs Tage unterwegs, aber das hält uns nicht davon ab, mit hundert Prozent zu spielen."
Olinde und Co. dürften sich mächtig geärgert haben, dass die Partie in Ulm dann auch noch in die Verlängerung ging. Fünf Extra-Minuten, die sich das Team gern erspart hätte. In der entscheidenden Phase packten die Berliner aber ihre letzten Kraftreserven aus und siegten am Ende verdient 71:66. „Der Einsatz und die Leidenschaft, die die Spieler nach dieser schweren Tour gezeigt haben –
das macht mich stolz", sagte Trainer Israel Gonzalez, der selbst an der Seitenlinie viel Energie gelassen hatte: „Aber ich denke, die Spieler sind müder als ich."
Letzte Kraftreserven wurden ausgepackt
Die geschlauchten Profis fuhren immerhin mit einem Erfolgserlebnis zurück nach Berlin. „Das ist auf jeden Fall gut für die Moral", sagte Power Forward Oscar da Silva. Und es ist gut für die Tabelle, in der Alba nur noch zwei Punkte hinter Spitzenreiter Bayern München liegt. „In der Bundesliga ist unser klares Ziel jedes Spiel zu gewinnen, in die Play-offs zu kommen und deutscher Meister zu werden", sagte Olinde selbstbewusst.
Im nächsten BBL-Spiel am 5. Dezember gegen die Niners Chemnitz kann der Titelverteidiger in der Tabelle einen weiteren Sprung nach oben machen. Die Sachsen sind ebenfalls mit fünf Siegen und drei Niederlagen in die Saison gestartet und haben im Pokal für eine große Überraschung gesorgt: Sie schalteten im Viertelfinale den Favoriten Bayern München (85:80) aus und zogen ins Final Four am 19. und 20. Februar 2022 ein. Dort treffen die Niners auf Berlin, das in der Runde der letzten Acht bei Medi Bayreuth deutlich mit 84:57 gewinnen konnte. Da sich im anderen Halbfinale die Merlins Crailsheim und die Basketball Löwen Braunschweig gegenüberstehen, ist Alba jetzt der große Titelfavorit. „Wenn man Pokalsieger werden will, muss man alle schlagen", meinte Olinde, „und wir wollen Pokalsieger werden".
Das Duell in der Bundesliga gegen Vorjahres-Aufsteiger Chemnitz ist daher auch eine Generalprobe für den Pokal. Alba will dann genauso dominant auftreten wie gegen Bayreuth, dem bislang wohl besten Saisonspiel. Schon nach dem ersten Viertel hatten die Berliner ihren Gegner förmlich überrannt und mit 30:8 geführt, sodass sie danach Kräfte sparen und souverän ihr Spiel aufziehen konnten. „Wir haben uns gesagt: Das ist ein Do-or-die-Spiel, da müssen wir mit Energie rauskommen", berichtete Olinde. Im jüngsten Ligaspiel in Ulm funktionierte dieser Plan nicht so gut. „Wir sind schlecht gestartet und haben wenig Energie auf dem Feld gehabt", gab da Silva zu. Vor allem den Brasilianer Cristiano Felicio, dem ein Double-Double gelang, bekamen die Gäste nicht in den Griff. Erst nach der Halbzeit mit einem Neun-Punkte-Rückstand drehte Alba auf. „Wir haben die Rebounds besser kontrolliert, davor hatte sich Felicio zu viele Offensivrebounds geschnappt", sagte da Silva: „In der Overtime haben wir ihn bei zwei Punkten gehalten. Es war wichtig für uns, dass wir die Bretter kontrollieren."
Kontrolle – das ist das Zauberwort für Gonzalez. Der Schüler seines Vorgängers, der Basketball-Ikone Aito Garcia Reneses, achtet weniger auf den Punktestand als auf die Bewegungen seiner Spieler. „Gewinnen ist immer nett", sagte Albas Coach, „aber unsere Philosophie ist, zu arbeiten, zu kämpfen, unser Bestes zu geben. Wenn es am Ende einen Sieg dafür gibt – umso besser." Daher wäre Gonzalez mit der zweiten Hälfte gegen Ulm auch absolut einverstanden gewesen, wenn es in der Verlängerung eine Niederlage gesetzt hätte. „Die Spieler haben ihren Stolz gezeigt, den Spirit, den sie in sich tragen", erklärte er: „Wenn die Spieler nicht wollen, wenn sie nicht kämpfen, ist es unmöglich."
Für Gonzalez ist es wichtig, dass viele Verletzte und Erkrankte mittlerweile in den Kader zurückgekehrt sind und er die enormen Belastungen besser verteilen kann. „So können wir mit der Intensität spielen, die wir uns vorstellen", sagte der Spanier. Auch aufgrund der Personallage verlief der Saisonstart holprig, der große Umbruch im Sommer half auch nicht beim Einstudieren von Automatismen. Manager Marco Baldi hatte Rückschläge einkalkuliert. „Es ist ein weiter Weg und natürlich machen wir da Schritte", sagte er: „Aber es wird nicht immer nur kerzengerade nach vorne gehen."
Das wissen auch die Spieler. „Nach den ganzen Verletzungen haben wir einen großartigen Kampfgeist gezeigt", meinte Forward Luke Sikma: „Das sagt viel über die Mentalität unseres Teams aus, und ist für mich wichtiger als individuelle Leistungen." Die braucht es natürlich auch, und dafür ist vor allem er selbst zuständig. Der Amerikaner scheint in seinem vierten Jahr bei Alba besser denn je zu sein – und vielseitiger. Nach dem Ausfall der Alba-Center war der 2,03 Meter große Profi unter dem Korb noch mehr gefordert, was auch ihn persönlich weiterbrachte. Selbst in manchen Statistiken der Euro League (Rebounds, Assists, Effektivitätswert) liegt er weit vorne. „Wenn man so viele Minuten gespielt hat, sind die Statistiken auf individueller Ebene vielleicht besser", erklärte er.
Im vierten Jahr besser denn je
Trotzdem ist unbestritten, dass Alba beim schwierigen Saisonstart ohne Sikma in deutlich größere Probleme geraten wäre. „Ich glaube, ich habe einen Schritt nach vorne gemacht im Vergleich zum letzten Jahr", sagte der 32-Jährige: „Ich versuche, dem Team noch mehr zu helfen." Gegen Ulm war das auch der Fall, seine 20 Punkte retteten das Team. Und in brenzligen Situationen hatte er immer eine Lösung parat.
„Er ist ein Anführer", sagte Trainer Gonzalez über Sikma. Mit seiner Erfahrung und Präsenz auf dem Parkett treibt er die zahlreichen jungen Spieler im Team an – ohne dabei viele Worte verlieren zu müssen. „Man merkt sowohl offensiv als auch defensiv, dass es bei uns einfach flüssiger läuft und mehr Stabilität da ist, wenn Luke auf dem Feld ist", erzählte der 20-jährige Malte Delow.
Für die Euro League reicht das aber noch nicht. Das 71:85 bei Neuling Unics Kasan war die dritte Pleite in Folge im europäischen Wettbewerb. Nach acht Niederlagen in den ersten elf Spielen steckt Alba im Tabellenkeller fest, der Frust über die fehlende Konkurrenzfähigkeit im internationalen Kräftemessen ist groß. Zumal sich die Berliner gegen Kasan zu Beginn des zweiten Viertels einen 18-Punkte-Vorsprung herausgearbeitet, diesen aber durch fehlende Konzentration und mangelhafte Effektivität verspielt hatte. Und so reiste das Team von seinem Russland-Trip mit leeren Händen zurück nach Berlin, denn zwei Tage zuvor war bei Topclub Zenit St. Petersburg (66:75) ebenfalls nichts zu holen gewesen.
Dass am Ende der Reise-Tortour immerhin ein Ligasieg in Ulm zu Buche stand, war zumindest ein kleiner Trost für Alba.