Die Corona-Zahlen schießen nach oben – Appelle allein helfen nicht weiter
ine große Mehrheit in Deutschland weiß: Der Schlüssel zur Bekämpfung der Corona-Pandemie ist der Impfschutz. Die Alternative wäre, einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung zu „durchseuchen" – mit dem Risiko, dass die Krankenhäuser und die Intensivstationen kollabieren. Das kann niemand ernsthaft wollen.
Es gibt Länder, die eine hohe Impfquote hingekriegt haben: Spanien, Portugal oder Israel. Deutschland gehört leider nicht dazu. Die Bundesrepublik ist seit fast anderthalb Jahren ein Schauplatz der politischen Kakophonie. Die Kanzlerin, Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten übertrafen sich mit Zwischenrufen und produzierten eine babylonische Sprachverwirrung. Schlagworte wie „Freiheit" (FDP-Chef Christian Lindner), „Team Vorsicht" (CSU-Chef Markus Söder), „AHA-Regeln", „3G", „2G" oder „2G Plus" machten die Runde. Zwischen Schleswig-Holstein und Bayern, Nordrhein-Westfalen und Sachsen herrschte ein föderales Gestrüpp unterschiedlicher Corona-Standards, bei dem kaum jemand durchblickte.
Derweil schwappte eine Corona-Welle nach der anderen über das Land – inzwischen die vierte. Was fehlt, ist politische Führung. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hat es nie vermocht, die Dringlichkeit der Coronakrise in der notwendigen Schärfe zu kommunizieren und die Menschen wachzurütteln. Auch der Regierungschef in spe, Olaf Scholz (SPD), verhielt sich merkwürdig still. Ein Helmut Schmidt hätte in einer nationalen Notlage wie dieser das Heft des Handelns an sich gerissen. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat es vorgemacht: Er hat eine Impfpflicht für Ärzte und Pfleger durchgedrückt. Wohl wissend, dass er bei seinen rebellischen Landsleuten gewaltigen Widerstand heraufbeschwören könnte. Leadership heißt, in schwierigen Zeiten voranzugehen.
An Warnungen hat es nicht gemangelt. Spätestens seit dem Sommer hat eine Vielzahl von Virologen in Deutschland Tacheles geredet: Die hoch infektiöse Delta-Variante verändere alles, so der Tenor. Ohne drastische Maßnahmen bestehe die Gefahr, dass das Land in einen finsteren Corona-Winter rausche. Der Weckruf kam in der Politik nicht an. Ausgerechnet Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) brachte den Stein ins Rollen, die „epidemische Notlage von nationaler Tragweite" zu kippen. Gleichzeitig galt es nicht nur bei der FDP als schick, einen neuen Lockdown sowie die Aussetzung des Präsenzunterrichts von vornherein auszuschließen.
In Zeiten der Pandemie kann nichts ausgeschlossen werden. Die Politik hat es anderthalb Jahre mit Appellen probiert. Sie konnte nicht verhindern, dass die Infektionszahlen nach oben schießen und die Entwicklung in den Krankenhäusern aus dem Ruder läuft. Die Intensivstationen sind laut Mediziner-Vereinigung Divi in Bayern, Thüringen, Sachsen und einigen Ballungszentren bereits vielfach überlastet. Covid-Kranke müssen in andere Bundesländer verlegt werden. Die ersten Kliniken bereiten sich auf die Triage vor – die Auswahl, welche Patienten behandelt werden und welche nicht.
Im CDU-Bundesvorstand schlug Merkel am Montag Alarm. „Wir haben eine hochdramatische Situation. Was jetzt gilt, ist nicht ausreichend", wurde die Kanzlerin zitiert. „Wir haben eine Lage, die alles übertreffen wird, was wir bisher hatten." Alle zwölf Tage würden sich die Fallzahlen verdoppeln. Warum geht Merkel nicht in die Offensive und liefert in der Öffentlichkeit eine schonungslose Bestandsaufnahme? Warum mahnt sie nur hinter verschlossenen Türen? Auch eine geschäftsführende Regierungschefin ist immer noch Regierungschefin.
Impfen ist nicht die Zauberformel für alles. Kurzfristig helfen Kontaktbeschränkungen am meisten gegen das Coronavirus. Aber klar ist auch: Mittelfristig muss die Impfrate in Deutschland deutlich steigen. Als letztes Mittel darf in einer pandemischen Ausnahmesituation auch eine Impfpflicht kein Tabu sein. Eine Endlosschleife aus Lockdowns ist keine Alternative – das haben die Ministerpräsidenten aus Bayern und Baden-Württemberg mit ihrem Plädoyer für eine Impfpflicht deutlich gemacht. Die Freiheit des einzelnen hört da auf, wo die Freiheit und die Gesundheit der Gesellschaft gefährdet werden. Oder, in den Worten des Bielefelder Staatsrechtlers Franz Mayer: „Die Grundrechte kommen im Zweifel wieder, die Toten nicht."