Im norditalienischen Dörfchen Aramengo in Piemont sind wahre Meister am Werk. Seit über 50 Jahren restaurieren die Nicolas Kunstwerke aus aller Welt.
Sanfte grüne Hügel bis zum Horizont. Auf den Weinbergen wachsen die Trauben vieler guter Tropfen wie Barolo und Barbaresco und in den Wäldern die berühmten Trüffel. Die Bewohner lieben ihr Piemont, die Lebensart und die Landschaft. Doch Piemont besitzt noch einen ganz besonderen Schatz. „Lass uns bei Gian Luigi vorbeischauen, ich muss dir etwas zeigen", sagt meine italienische Begleiterin Ameriga Vozza. Wir biegen von der Hauptstraße nach Turin in das 600 Seelendorf Aramengo ab und fahren durch die engen Straßen an alten Häusern vorbei. Vor uns erhebt sich ein großes schmiedeeisernes Tor, das den Blick auf einen üppigen Garten frei gibt. Das Haus dahinter erinnert mit seinen bodentiefen Fenstern an ein Gewächshaus. Ameriga klingelt und kurz darauf kommt Gian Luigi Nicola in einem weißen Kittel aus dem Haus gelaufen und öffnet das Tor. „Das ist der Patriarch", flüstert mir Ameriga ins Ohr. Mit seinem grauen Bart und dem schütteren Haar, erinnert er mich eher an einen Chemieprofessor. „Kommt mit, mein Enkel Alessandro ist auch da, wir zeigen euch alles", sagt er und öffnet die hohe Flügeltür des Hauses.
„Jedes Werk ist wie ein verletzter Freund"
Ich traue meinen Augen nicht: Ölgemälde aus dem 16. Jahrhundert, afrikanische Figuren und Kunstwerke der klassischen Moderne bis in den letzten Winkel – als würde man mitten auf dem Land im Louvre stehen. Meisterwerke von Leonardo da Vinci, Caravaggio, Tintoretto, Tizian, Rembrandt, Rubens, Van Dyck, Kandinsky, Picasso, Max Ernst, Warhol und vielen anderen standen hier schon auf der Staffelei.
„Jedes Werk ist wie ein verletzter Freund, der mit viel Liebe und Expertise behandelt wird", sagt Gian Luigi. Seit über 50 Jahren restaurieren die Nicolas Kunstwerke aus aller Welt, von Gemälden, über Fresken bis hin zu ägyptischen Tempeln. Es war Guido, der Vater von Gian Luigi Nicola, der kurz nach dem Zweiten Weltkrieg ein besonderes Familienunternehmen aufbaute. Längst zählen die Nicolas zu den besten Restauratoren der Welt.
Piemont gehörte zu der Region Norditaliens, die von der ersten Welle des Corona-Virus besonders betroffen war. Für große Schwierigkeiten bei der Restaurierung sorgten die Ausgangsbeschränkungen, durch die Arbeiten an und in Gebäuden völlig zum Erliegen kamen. „Ist etwas fertig, gibt es normalerweise eine festliche Einweihung mit den Bewohnern, der Kontakt zum Publikum fehlte uns sehr", sagt Alessandro. Doch er bleibt optimistisch, schließlich hat die Kunst ihre Kraft nicht verloren.
Gian Luigi führt uns durch die große Eingangshalle und zeigt uns den fünf Meter hohen Aufzug, der es den Restauratoren ermöglicht, riesige Wandgemälde beispielsweise aus Kirchen im Liegen und Stehen zu bearbeiten. Im nächsten Raum stapeln sich Dosen mit Farbpigmenten bis unter die Decke, ein paar Meter weiter stehen moderne Analysegeräte und überall Gemälde – auf Bodenständern, Staffelleien, in Schubfächern. Nicola weist uns auf ein Landschaftsbild mit vielen Blau- und Gelbtönen hin und fragt: „Kommt euch der Pinselstrich bekannt vor?" Wir müssen sofort an Vincent van Gogh denken. „Es stammt aus einer privaten Sammlung und wir sind sicher, dass es ein van Gogh ist, den die Welt noch nicht gesehen hat", sagt er.
In den Wirren des Zweiten Weltkriegs hatte Guido Nicola seine zukünftige Frau Maria Rosa kennengelernt und mit ihr die Welt der Kunst. Sie begegneten sich auf der Straße, als sie mit ihrem Vater anhielt, um mit einem Transporter Kunstwerke aus Turin aufs Land und in Sicherheit zu bringen. Sein Schwiegervater, ein anerkannter Maler, Restaurator und gefragter Antiquitätenhändler, erkannte Guidos künstlerisches und handwerkliches Talent. Er brachte ihn mit den besten Restauratoren Turins zusammen. Einer davon war gleichzeitig Maler, der andere Chemiker. Von ihnen lernte Guido, wie wichtig unterschiedliche Herangehensweisen und innovative Techniken bei der Restaurierung von Kunstwerken sind. „Um Geld zu verdienen, eröffnete Guido ein Friseurgeschäft in Turin, arbeitete tagsüber und ging abends in die Restauratorenschule", erzählt sein Sohn Gian Luigi Nicola.
Nach ihrer Hochzeit 1946 fingen Maria Rosa und Guido im Hinterzimmer des Friseurgeschäfts an, zerstörte Gemälde wiederherzustellen, die sie auf Flohmärkten entdeckt hatten. In den folgenden Jahren kamen die ersten Aufträge der staatlichen Abteilung für kulturelles Erbe der Region Piemont. Guido widmete sich der Restaurierung von Gemälden auf Leinwänden und Fresken, Maria Werken auf Papier, Pergament und Stoff. Nach der Flut in Florenz 1966 wurden die Nicolas beauftragt, beschädigte Kunstwerke zu retten. „Das war für uns der Durchbruch, auf einmal wurden wir international bekannt", berichtet Gian Luigi Nicola, der ebenfalls zum Familienunternehmen gehört und sich auf die Restaurierung archäologischer Funde, vor allem Tempel und Sarkophage in Ägypten, spezialisierte. Sein Sohn Alessandro setzt die Arbeit seines Vaters fort und kümmert sich heute vor allem um die Organisation des Unternehmens.
Auftraggeber sind Museen und Sammler
In Aramengo, Guidos Geburtsort, fanden die Nicolas 1967 endlich ein geeignetes Haus mit ausreichend Platz für unzählige Kunstwerke. Die Werkstatt wurde als Familienunternehmen ins Leben gerufen und für den Meister ging ein Traum in Erfüllung: Eine große gut ausgestattete Klinik, ein Team von vertrauensvollen Mitarbeitern und eine Werkstatt, die Expertise mit Forschung und neuester Technik verbindet. Zu ihren „Patienten" zählen Kunstwerke, die unter Feuchtigkeit, Hitze und Umweltverschmutzung leiden, falsch behandelt oder beschädigt wurden. Sie werden bei den Nicolas untersucht, fotografiert und analysiert und mit vielen Instrumenten aus der Medizin bearbeitet. Dazu zählen Röntgen-, Ultraschall- und Laser-Geräte sowie Skalpelle und Pinzetten. Schon früh entwickelten die Nicolas innovative Techniken zur Restaurierung – beispielsweise Methoden, um mit Infrarotlampen die Farben zu fixieren, oder den Einbau eines Aluminiumkerns, um alte Holzrahmen zu erhalten. Sie bringen aber auch mitunter eine dünne Schicht aus Fiberglas und Polyester auf Kunstwerke auf, eine Schicht, die gegen Feuchtigkeit schützt, zudem stoßfest und isolierend ist. Eine Spezialität der Nicolas ist das Reinigen der Farben. So kam auch ein besonders berühmtes Gemälde nach Piemont: Leonardo Da Vincis „Mona Lisa". Das Gemälde war mit der Zeit gelbstichig geworden. Nach der Behandlung bei den Nicolas strahlt Mona Lisa wieder.
„Experten aus der ganzen Welt kommen zu uns, um zu sehen, wie beispielsweise Kunstwerke aus dem 15. Jahrhundert wieder auferstehen", sagt Gian Luigi Nicola. Zu den Auftraggebern des Unternehmens zählen der Pariser Louvre, Londons Victoria and Albert Museum, die Gemäldegalerie Berlin, das Metropolitan Museum of Art in New York, private Sammler und viele andere.
Als Guido Nicola 2015 mit 93 Jahren starb, war es für seine Frau mit Hilfe ihrer Kinder, Enkelkinder, Neffen, Schwiegertöchter- und söhne selbstverständlich, das mehrfach ausgezeichnete Unternehmen weiterzuführen. Die Familienmitglieder wurden zu Mitarbeitern, halfen das Erbe zu bewahren und weiterzuentwickeln. Heute beschäftigen die Nicolas über 60 Mitarbeiter. Und in der Familie vertraut man darauf, dass auch die nächste Generation das renommierte Unternehmen weiterführen wird.