Wer Venedig liebt, besucht die Lagunenstadt in der kälteren Jahreszeit. Nie strahlt sie mehr Ruhe aus. Die Museen sind leer, die Gassen voller Romantik, und die Menschen haben seltsam gute Laune.
Herbst in Venedig. Plötzlich sind die Farben wieder klarer, weht der Wind ein wenig rauer. Die Kontraste treten schärfer hervor. Besonders, wenn man vom Meer aus auf „die unwahrscheinlichste aller Städte" zufährt. Die Kuppeln ragen in den diffus schimmernden Himmel; Paläste und berühmte Kirchen kommen ins Blickfeld. Kerzengerade schält sich der Campanile von San Marco aus der Uferlinie. Um Mitternacht läuten die Glocken, als verkündeten sie die Rückeroberung der Altstadt. Die Venezianer sind wieder unter sich, gelassener, freundlicher, ihre Gesichter entknittern sich. Sie nehmen die Plätze und Gassen ihrer Stadt wieder in Besitz. Hektik, Touristengruppen, Kitsch und Kommerz – all das ist jetzt vorbei. Indizien für den nahenden Winter sind mangels Bäumen nicht herabfallende Blätter: Es ist der Geruch nach Algen, das Licht ist mild. Und die Markthändler sprechen wieder.
Das Rendezvous mit der Diva beginnt im „Caffè Florian" auf der Piazza San Marco – wo sonst. 1720 eröffnet, ist es heute das älteste Kaffeehaus Europas. Aus den Fenstern der Salons mit viel Plüsch, Spiegeln und Lüstern sahen schon Goethe und Thomas Mann den Tauben zu. Heute löffelt vielleicht ein Schauspieler am Nebentisch den berühmten Bicerin: süße Schokolade mit Kaffee und Milchcrème. Mit acht Euro unverschämt teuer, aber auch unverschämt gut.
Gelassen durch die Straßen gehen
Gegenüber im „Caffè Quadri" spielen Stehmusiker Populäres. Mal mit schwarzer Brille und Mafiosi-Tuch, mal als Charmeure mit Schmalz und Schmelz. Immer im Wechsel mit „Caffè Lavena", wo sich schon immer Dichter und Musiker fast wie im Salon eines königlichen Palastes fühlten. Die herbstlich warmen Sonnenstrahlen erlauben es, draußen zu sitzen. Bei einem Cappuccino gehen die Blicke zu den Goldmosaiken von San Marco, zu den filigranen Säulen des Dogenpalastes, weiter zum Campanile und zu den unzähligen Arkadenbögen. Der Platz ist schlicht großartig.
Morgens und abends ziehen Nebelschwaden durch die Stadt – Venedig ist ruhig und schön. Wer nicht nur Statist im Film sein will, lässt sich mit einem Bootsshuttle geschwind über die Kanäle fahren. Endlich kann man wieder gelassen durch die alte Geschäftsstraße Mercerie vom Markusplatz bis zur Rialtobrücke gehen, ohne zerdrückt zu werden. Der Campo San Luca ist morgens schon von Espressoduft durchzogen und voll von Venezianern. Wenn um 12 Uhr mittags das Angelus geläutet wird, treffen sich Markthändler und Kulturfreaks, Handwerker, Anwälte und der ein oder andere Tourist in den kleinen Kneipen auf einen „bacari" und zum „ciacole". Das ist venezianisch und mit „quatschen" nur unzureichend übersetzt. Man regt sich über Steuern auf, über das „acqua alta", das Hochwasser, und tauscht ein paar Gerüchte aus. Gestärkt mit „cicheti" – den kleinen köstlichen mundgerechten Delikatessen – geht’s für die Venezianer dann wieder zur Arbeit. Venedig ist eine Kleinstadt. Wenngleich auch eine vom Range eines Weltwunders.
Das Kunsthandwerk Venedigs wird lebendig bei einem Besuch in einem Maskenatelier oder bei Meister Roberto Comin, der mit Leidenschaft die Marionette des liebenswerten, hölzernen „Pinocchio" zum Leben erweckt. In den weltberühmten Textilfabriken der alteingesessenen Familie Bevilacqua und des Mariano Fortuny entstehen auf antiken Webstühlen aus dem 18. Jahrhundert farbige Wunderwerke aus Samt, Seide und Baumwolle, durchwirkt mit Gold- und Silberfäden. Härteres aus Marmor und Stein, etwa Engel, Büsten und Tischplatten zaubert der zeitgenössische „Michelangelo" Bruno in seiner Marmorwerkstatt „Marmi Dall’Era" nahe der Strada Nova.
Ein legendäres Fünf-Sterne-Hotel
Entweder man bummelt weiter, oder setzt entschlossen über ins Refugium des legendärsten Fünf-Sterne-Hotels Venedigs, „Hotel Cipriani". Es liegt gegenüber der Piazza San Marco auf der Spitze der Insel La Guidecca in einem Garten Eden, direkt am Canale della Guidecca, dem größten und breitesten Kanal der Lagunenstadt. In der Stadt des Wassers, des Marmors, des vielen Steins ein Garten? Kein Irrtum, Guidecca war schon im 16. Jahrhundert Gartenregion. Historische Casanova-Gärten breiten sich aus, deren Stille und Verschwiegenheit Giacomo Casanova – er hielt bekanntermaßen die Damen des 18. Jahrhunderts in Atem – nach glanzvollen Festen in den Palästen der Dogen so liebte. Es ist ein besonderer Platz, der sich vom Trubel in der Altstadt so angenehm abschottet. Im Casanova-Spa kommt man nach einer echten Thaimassage bei sanftem Licht, Blütenduft, meditativer Musik schnell wieder zu Kräften. Das Highlight: ein Facial mit 24-karätigem Gold!
Am frühen Abend ist auf dem Campo San Bartolomeo das gleiche Schauspiel zu sehen wie am Tage auf San Luca, allerdings in anderer Besetzung: Dort trifft sich Venedigs Jeunesse dorée. Die Piazza summt, und es riecht nach Vino bianco und Apérol. Um neun ist der Platz wieder menschenleer. Warum sich die halbe Stadt gerade auf diesen zwei Campi trifft, bleibt ein venezianisches Geheimnis.
Auf Venedig muss man sich einlassen. Hinein in die stillen Winkel, auch einmal weg von der großen Kunst. Jetzt macht es Spaß, sich durch die engen Gassen zu schlängeln, treppauf, treppab über kleine Brücken und Stege. Verborgene Gärten in illustren Palazzi aufspüren, lauschige Innenhöfe und das Haus Nr. 5858 entdecken. Von hier aus brach Marco Polo 1271 nach China auf. Im brackigen Wasser spiegeln sich Mauern und Fassaden, lösen sich auf in grazile Ornamente, die mit den ersten Nebelschwaden wieder verwischen. Ein Genuss ist es, den Gondolieri zuzusehen, wie sie ihre schwarzen Gondeln elegant durch die schmalen Kanäle manövrieren.
Kunstgenuss ohne Warteschlangen
Erfüllt verstreichen die Tage wie die Nächte, auf Piazza und Campo, auf verwunschenen Terrassen und belebten Promenaden. Die wenigen Touristen gehen weiter auf Jagd nach Märtyrern und Propheten, finden Genuss in den Kirchen vor Tizian- und Tintoretto-Gemälden. Denn Venedig ist unerschöpflich an Mythen und Sagen. Sie stöbern in Läden ohne Maskenkitsch, dafür mit sündhaft teurer Alta Moda und probieren in den Trattorias schwarze Pasta mit Tintenfischsauce, dazu ein Glas Prosecco. Die Verkäufer ebenso wie die Kellner sind entspannt, keiner bringt mehr etwas durcheinander.
Venedig im Winter bedeutet auch Kunstgenuss ohne Warteschlangen. In dem atemberaubend schönen und frisch restaurierten Palazzo Ca’ Pesaro wird ganz große Kunst der Moderne gezeigt. Nach jahrelanger Schließung hat er endlich wieder seine Pforten geöffnet. In neuem Ambiente werden Meisterwerke von Kandinsky und Miró, von Matta und De Chirico gezeigt. Restauriert wurden auch die Deckenfresken einiger Säle, die von Tiepolo stammen. Die Ca’ Pesaro darf ohne Übertreibung als eines der interessantesten Museen für moderne Kunst in Italien bezeichnet werden. Und das Teatro La Fenice als eines der schönsten Opernhäuser, in dem nach einem verheerenden Feuer seit vielen Jahren wieder herrliche Musik erklingt.
Ein Palast ist heute eine Nobelherberge
Eine Fahrt auf dem Canal Grande im Vaporetto, dem Wassertaxi, ist eine Offenbarung. Die Galleria dell’Accademia, das Guggenheim-Museum und das Palasthotel Pisani Gritti leuchten in der Abendsonne wie ein Ölgemälde von Canaletto – Venedigs berühmten Städtemaler des 18. Jahrhunderts. Am Ende der Lagune erscheint die weiße Kirche Santa Maria della Salute. Dort findet immer im Spätherbst ein wirklich venezianisches Fest statt, die Festa della Salute. Eigentlich wird der Pestepidemie von 1630 gedacht, in Wahrheit aber pilgert jeder Venezianer zur Schwarzen Madonna, um sich, seinem Geschäft und seiner Familie Glück zu wünschen. Zeit für einen Bellini, der Kultcocktail aus Sekt mit Pfirsichsaft, in „Harry’s Bar" am Ufer Schiavone. Gegenüber im Zattere-Viertel, wo tags die Wäsche auf der Leine flattert, erklingt in der Gesuati-Kirche Vivaldi, Musik von Venedigs berühmtestem Komponisten (1678 – 1741). Sein Palast steht nahe der Seufzer-Brücke und ist heute die Nobelherberge „Metropole". In den Salons wird seine Zeit wieder lebendig: Als die Dogen glanzvolle Feste gaben, Casanova die Damen bespaßte, und die Venezianer Karneval feierten. Der nüchterne Napoleon setzte seinerzeit dem Possenspiel ein Ende, ließ alle Masken verbrennen. Seit den 70er-Jahren jedoch ist der „Carnevale" wieder lebendig. Das ist der Moment, an dem sich jeder Venezianer wünscht, irgendwo zu sein, nur nicht hier. Wie im Sommer werden die Besucher in den Gassen stecken, die Palazzi und Museen stürmen.
Noch ist er weit weg: Kalter Nebel bedeckt die Serenissima mit einem melancholischen Grauschleier, Gäste beobachten von den großen Terrassen der Zimmer die hereinbrechende Abenddämmerung. Die surreale, morbide Atmosphäre aus dem Film „Wenn die Gondeln Trauer tragen" wird fast greifbar. In Venedig zu wohnen ist immer noch ein unerhörtes Privileg.